Stille Wasser gründen tief

Movie-Kritik: Still Life
Bildquelle: 
Filmcoopi

Aufstehen. Zur Arbeit fahren. Tote beerdigen. Abendessen. Schlafen. John Mays (Eddie Marsan, «Filth», «The World’s End») Leben besteht aus Abläufen, die sich von Tag zu Tag nicht gross unterscheiden. Seine Zeit, auch ausserhalb der Arbeitsstunden, gehört ganz den einsam Verstorbenen, deren Beerdigungen er beruflich organisiert. Liebevoll widmet er sich den zurückgebliebenen Gegenständen der Toten, welche ihm als Inspiration bei der Verfassung von würdevollen Abdankungsreden dienen. Sorgfältig wählt er passende Bestattungsorte aus, damit die Toten auch wirklich in Frieden ruhen können. Kurz: Die letzte Würde ist für ihn nicht Pflicht, sondern Erfüllung. Wer nun denkt, hinter dem unscheinbaren Beamten lauere ein rostiger Geist, der irrt. So auch May’s Chef, welcher ihm aus Spar-Massnahmen die Stelle kündigt. Pflicht geht bei May jedoch vor Stolz und so widmet sich der Londoner eifrig seinem letzten Fall.

 

 

 

«Still Life» ist ein cineastischer Rohdiamant. Und mit jeder Minute kommt ein neuer Schliff hinzu, der den Film stärker funkeln lässt. Die schönste und eckigste Kante dieses Filmjuwels ist ohne Frage Eddie Marsan. Der Brite brilliert in der Rolle des schlichten Helden, der in sich so viel Mitgefühl, Verständnis und Hoffnung trägt, dass wir als Zuschauer nicht umhin kommen, genau dieselben Gefühle für ihn zu pflegen. Schliesslich wird schnell klar, dass sich Mays Leben nicht sonderlich von jenen der Verstorbenen unterscheidet. Gesellschaftlich isoliert lebt er ein ruhiges, aber zufriedenes Leben, welches er bis zu seinem letzten Fall nie wirklich in Frage stellt. Doch als ausgerechnet sein Nachbar tot aufgefunden wird, kommt May nicht umhin mit den Augen anderer sein Leben zu betrachten. Besonders schön dargestellt wird dies in einer Szene, in der May aus dem Fenster des Toten in seine eigene Wohnung blickt und ihm klar wird, dass er dieselbe Sicht aus seinem Fenster besitzt. Statt in Lethargie zu verfallen, nimmt sich May für seinen letzten Fall jedoch die Zeit und den Raum, den er braucht um die Hinterbliebenen zu finden, aber auch aus seinem eigenen Käfig auszubrechen.

 

 

 

Aus ihrem Käfig ausbrechen möchten auch die vielen Hunde der Tierpflegerin Kelly (Joanne Forgatt, «Filth», «Downton Abbey»), welche May auf seiner Odyssee fernab von London kennenlernt. Die Tochter des verstorbenen Nachbarn vermag mit ihrer Entscheidung, ob sie an der Beerdigung teilnehmen möchte oder nicht, May’s ganze bisherige Laufbahn in Frage zu stellen. Und obwohl zunächst vermutet werden kann, dass «Still Life» einem gängigen Schema folgt, werden die Zuschauer durch kleine amüsante Deutungen hie und da auf die falsche Fährte gelockt. Genauso wie in Marsan/Forgatts erster Zusammenarbeit, der Irvine-Welsh-Verfilmung «Filth», welche kurz vor «Still Life» gedreht wurde. Unvergesslich und unerlässlich sind beide Filme. Dieser aber kann noch im Kino bewundert werden. Deshalb Licht aus und Film an. Und wer noch unschlüssig ist: Regisseur und Drehbuchautor Uberto Pasolin wurde letztes Jahr an den Filmfestspielen in Venedig für «Still Life» als bester Regisseur ausgezeichnet.

 

  • Still Life (2013)
  • Regie & Drehbuch: Uberto Pasolin
  • Darsteller: Eddie Marsan, Joanne Forgatt, Karen Drury, Andrew Buchan
  • Laufzeit: 87 Minuten
  • Kinostart: 3. April 2014
Tanja Lipak / Mi, 02. Apr 2014