Der Kuss eines Hündchens

Moviekritik: La hija de todas las rabias
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© trigon-film.org

Die aus Nicragua stammende Regisseurin Laura Baumeister schickt in ihrem ersten Spielfilm ein Mädchen auf eine emotionale Tour de Force. «La hija de todas las rabias» pendelt emotional geschickt zwischen bedrückend und berührend und ist letztlich eine leise Hymne an die Hoffnung.

 

Die 11-jährige María lebt mit ihrer Mutter Lilibeth in der Nähe von La Chureca, der grössten Mülldeponie Nicaraguas. In einer instabilen Wellblechhütte am Xolotlán-See haust das verträumte, aber clevere Mädchen, das ein Faible für das Weltall hat, mit ihrer Mutter und der Hündin Juana. Durch den Verkauf von Altmetall hält sich das Mutter-/Tochter-Gespann einigermassen über Wasser und auch wenn es ab und zu Reibungen gibt, Lilibeth würde alles für María tun, die wiederum ihre Mutter über alles liebt und als Fixstern in ihrem Universum sieht. Als die Hündin Welpen bekommt, ergibt sich die Chance auf etwas zusätzliches Geld. María ist jedoch völlig vernarrt in die Welpen, fühlt sich fast als Teil des Rudels, und schliesst die Hunde in ihr grosses Herz. Allerdings füttert sie die Tiere falsch, worauf sie sterben. Da der lokale Drogenboss bereits für die Welpen bezahlt hat, bleibt nur eine Chance: Flucht.

 

Eine fragile Freundschaft

 

Lilibeth reist mit María zu Raul und Rosa, die einen Schrottplatz betreiben. Sie lässt ihre Tochter für ein paar Tage bei den Bekannten, um etwas zu erledigen. Was sie meint, bleibt unklar. Klar ist dafür, dass Nicaragua von politischen Unruhen geschüttelt wird. Im Film wird die politische Lage nie näher erläutert, dient eher als bedrohliche und plastische Metapher für das aufgewühlte Seelenleben von María. Die Strassen sind jedoch nicht sicher, weil Demonstrationen schon mal gewalttätig werden können. So vergehen die Tage und in María steigt die Wut. Sie kann nicht verstehen, warum ihre Mutter sie zurückgelassen hat. Gleichzeitig steigt die Sorge, die Mutter nie mehr zu sehen. Mit allen Mitteln sucht das Mädchen Ventile, eckt immer wieder an. Einzig Rosa kann ein wenig zu ihr durchdringen. Und dann ist da noch Tadeo, der ebenfalls auf dem Schrottplatz arbeitet. Der Junge mag María und so entsteht eine fragile Freundschaft. Aber María plagen immer wieder Alpträume von der Mutter und so beschliesst sie, die Suche wieder aufzunehmen.

 

María mit den heissgeliebten Welpen. (© trigon-film.org)

 

Laura Baumeister nähert sich dem Mädchen und seiner Gefühlswelt behutsam, ohne zuviel zu erklären. Lieber lässt die Regisseurin Bilder sprechen, arbeitet mit langen Sequenzen, die das Beobachten und Einfühlen in die zentrale Figure erlauben. Diese entschleunigte Herangehensweise ist clever als Kontrast für die Wut und Ohnmacht, die in María brodelt. Zudem ermöglicht diese Art der Annäherung, dass man sich schnell mit dem Mädchen verbunden fühlt. Man leidet mir ihr, wenn sie durch emotionale Täler muss, und freut sich mit ihr über die guten Momente. Beispielhaft dafür sind die Momente mit dem Jungen Tadeo. Er geht auf María zu und ist ihr eine grosse Stütze. Mit der Zeit öffnet María ihr Herz. In einer rührenden Szene beisst sie Tadeo sanft in den Arm und erklärt dem erstaunten Jungen, dass sei der Biss eines Hündchens. In der Welt von María ist diese sensible Geste der Zuneigung, ein Funken Hoffnung, weil sie merkt, dass sie nicht allen egal ist.

 

Aufwändige Vorbereitung der jungen Hauptdarstellerin

 

Dass María so greifbar ist, liegt, neben der ruhigen Narration, auch an der starken Hauptdarstellerin. Für Ara Alejandra Meda ist es die erste Rolle. Trotzdem gelingt es ihr, die Emotionen glaubhaft und ohne Übertreibung zu verkörpern. Möglicherweise liegt das daran, dass ihr die Gefühlswelt von María nicht fremd ist. Ihre Familie lebt in ähnlichen Umständen wie María und bei Drehbeginn konnte sie weder schreiben noch lesen. Aber ihre legitime Wut war schon beim Casting spürbar und mit dem Ausdruck in ihrem Gesicht war für Baumeister rasch klar, dass kein anderes Mädchen für die Rolle in Frage kommt. Kurzerhand hat Baumeister die Wohnung über ihrer eigenen gemietet und gemeinsam mit Diana Sedano (spielt Rosa im Film), die in Mexico Theaterschauspielende ausbildet, sechs Wochen lang für drei Stunden am Tag mit Ara Alejandra Meda gearbeitet, um sie vorzubereiten. Das Mädchen sollte lernen, ihre Emotionen wie Wut, Trauer oder Groll einzuordnen, denn sie hatte keine Ahnung, was hinter ihren Gefühlen steckt. So lernte sie das ABC der Emotionen und erst danach haben die Frauen angefangen, mit dem Mädchen am Drehbuch zu arbeiten. Der Aufwand hat sich offensichtlich gelohnt.

 

Regisseurin Laura Baumeister hat Soziologie studiert und ist über einen Freund auf das visuelle Erzählen gestossen. In Nicaragua war aber kein Studiengang für das Filmemachen möglich, also hat sich Baumeister am Centro de Capacitación Cinematográfica in Mexico beworben. Dort konnte sie ihre Leidenschaft zum Beruf machen und hat mit «La hija de todas las rabias» den ersten Film gemacht, der in Nicaragua von einer gebürtigen Nicaraguanerin gedreht wurde. Verschiedene Formen der Liebe, wie hier zwischen Mutter und Tochter interessieren sie besonders. Baumeister hatte nach der Ausbildung bereits in Mexico als Filmemacherin gearbeitet, doch für den Film zog es sie zurück nach Nicaragua.

 

María und Mutter Lilibeth sind ein Herz und eine Seele. (© trigon-film.org)

 

Für sie war klar, dass der Drehort entscheiden sein würde und schnell erinnerte sie sich an La Chureca und die damit verbundenen Gegensätze mit den Abfallbergen auf der einen Seite und dem See mit Bergkulisse auf der anderen Seite. Sie selbst hat als junge Erwachsene in einem Schulprojekt den Kindern auf der Müllhalde Lesen und Schreiben beigebracht und erkannt, wie kreativ die Kinder sind, um in Objekten einen Sinn zu erkennen und ihnen neue Zwecke zu geben. Diese Fähigkeit, auf Situation zu reagieren, hat auch María im Film. So wurde langsam klar, dass die Geschichte an diesem Ort stattfinden sollte. 

 

Die Vision von Laura Baumeister funktioniert gut als Parabel

 

«La hija de todas las rabias» ist manchmal verträumt, manchmal brutal realistisch, aber nie übertrieben. Die Vision von Laura Baumeister funktioniert als Ode an das Band zwischen Mutter und Tochter genauso gut, wie als Parabel über ein Mädchen, dass durch jeden Stein, der ihm in den Weg geworfen wird, stärker und selbstbewusster wird. Bis zur letzten Einstellung, die ohne Worte Bände spricht. Baumeister gelingt es mühelos, die richtige Stimmung zu erzeugen und sie opfert nie die Geschichte für einfache Gefühle. Dafür sind ihr der Film und ihre Figuren zu wichtig und das ist in jeder Minute zu spüren.

 

Ein grosses Plus an «La hija de todas las rabias» ist die junge Hauptdarstellerin, die fabelhaft spielt. Ihr hilft aber ein entschleunigtes Drehbuch, das behutsam mit der Geschichte umgeht. Ein Film, der tiefgeht.

 

  • La hija de todas las rabias (Nicaragua, 2022)
  • Drehbuch und Regie: Laura Baumeister
  • Besetzung: Ara Alejandra Medal, Virginia Sevilla, Carlos Gutierrez, Noé Hernández, Diana Sedano
  • Laufzeit: 91 Minuten
  • Kinostart: 6. Juli 2023

 

 

Bäckstage Redaktion / Di, 04. Jul 2023