Zeitreisende existieren

Filmkritik: Before Midnight
Bildquelle: 
Rialto Film

1995. Ein Zugabteil. Helllichter Tag. Ein vierzigjähriger Mann und seine gleichaltrige Frau streiten ungeniert vor den anderen Zugfahrenden. Von der lautstarken Debatte genervt, spricht der junge Amerikaner Jesse die im Zugabteil vis-a-vis sitzende Céline an. 18 Jahre und eine verhängnisvolle Begegnung in Paris später: Jesse und Céline, nun selbst um die Vierzig, liefern sich einen noch heftigeren Schlagabtausch als das Ehepaar im Zug damals. Die bittersüsse Ironie, dass aus den zwei jungen Menschen, die sich Mitte der Neunziger dem Ehepaar so überlegen gefühlt haben, genau jenes streitende Zweiergespann geworden ist, schmerzt. Ferienkulisse hin oder her, «Before Midnight» ist eine schwere Partie, das wird bereits zu Beginn sichtbar.

 

Bild 1: Jesse und Celine haben jetzt eine Familie. / Bild 2: Sie flanieren und philosophieren. Über das Leben und die Liebe. (Mit Maus über Bild fahren)

 

Jesse begleitet seinen Sohn Hank (Seamus Davey-Fitzpatrick, «Das Omen») in Griechenland zum Gate für den Flug zur Mutter nach Amerika.  Aus dem Flughafen schreitet der sichtlich mitgenommene Jesse allein. Diesen einen entscheidenden Flug zu seiner Ehefrau und ihrem gemeinsamen Sohn hat der Schriftsteller vor neun Jahren verpasst. Seither sieht er seinen Sohn nur zu Ferienzeiten und besonderen Anlässen. Die Angst, Hanks Kindheit komplett verpasst zu haben, sitzt Jesse spürbar in den Knochen. Vielleicht scheint hier auch etwas von Ethan Hawkes eigenem Leben zwischen Filmset und Familie durch. Seine beste Seite zeigt der amerikanische Schauspieler, der Jesse spielt, aber erst an der Seite von Julie Delpy, die Celine verkörpert. In einem unvergesslichen 20-minütigen Take lässt Regisseur und Drehbuchautor Richard Linklater Delpy und Hawke zu Beginn den berechtigten Platz, um zu zeigen, was seit jenem Sommertag 2004 in Paris geschehen ist. Jesse blieb bei Céline in Paris. Kurze Zeit später wurde sie schwanger, nun sind die beiden Eltern der siebenjährigen Zwillinge Ella und Nina. Letztere erinnert mit ihren Namen an die Sängerin Nina Simone, die mit ihrem Song «Just in time» doch den einen entscheidenden Hinweis gab, wie Jesses und Célines romantische Begegnung in Paris endete. So sehen wir in «Before Midnight» Jesse und Céline zum ersten Mal als Paar, wohingegen sie in «Before Sunrise» (1995) zwei junge Studenten waren und in «Before Sunset» (2004) zwei von der Vergangenheit verfolgte Zyniker. Uns Zuschauer von diesem Zynismus zu befreien, scheint das Ziel von Regisseur Linklater zu sein.

 

Zuspruch für die Zyniker?

 

Als er uns Mitte der Neunziger Jahre mit dem dialogstarken «Before Sunrise» verzauberte, wünschten viele Kinobesucher, Jesse und Céline würden sich nach einem gemeinsam verbrachten Tag wie vereinbart sechs Monate später am selben Ort wieder treffen. Daran geglaubt haben aber wohl nur die wenigsten, schliesslich tauschten die beiden altklugen Studenten keine Daten aus, um keine zu romantische Erwartungen gedeihen zu lassen. Neun Jahre später lüftete Linklater das Geheimnis um das geplante Treffen in «Before Sunset»: Sie haben sich 6 Monate später nicht wiedergefunden. Ein Zuspruch für die Zyniker? Wohl kaum. Vielmehr liess uns Linklater in Célines Wohnung als hoffnungslose Romantiker zurück. Welche Weltsicht wir jetzt, am Ende von «Before Midnight», in uns tragen, ist nicht ganz so klar.

 

 

Bild 1: Jesse und Celine sind beliebt beim Hotelpersonal. Bild 2: Ein Zeitreisender und seine Französin.

 

Gewiss ist es eine Freude, die beiden Hobbyphilosophen wiederzusehen und ihren angeregten Diskussionen zu lauschen. Diesmal gesellen sich gar Nebenfiguren in die Handlung. Die Tatsache, dass es diesmal aber um Jesses und Célines Zukunft als Paar geht, lässt eine Rückkehr zum Zynismus vermuten. In einer sehr schön eingefangenen Szene kommentiert Céline den Sonnenuntergang mit: «Still there, still there, still there, still there … gone.» Genauso verhält es sich mit unserer Hoffnung für die beiden. Delpy gibt erneut die temperamentvolle Celine, die krampfhaft versucht von jeglichen romantischen Vorstellungen zu entfliehen, die jeder in sich trägt. Der Verdacht fällt sofort auf ihre feministischen Ideale, wenn es darum geht ihre Motive zu erörtern. Doch wie bereits in «Before Sunset» zeigen sich einmal mehr ihre verletzten Gefühle als wahre Ursache. Jesse auf der anderen Seite gibt sich betont romantisch, erhält von Celine aber nichts als Hohn für seine naive Weltsicht. Obwohl sich ihr allererstes Gespräch 1995 in jenem Zug nach Wien darum kreiste, wie Paare nach einer gewissen Zeit die Fähigkeit verlieren, einander richtig zuzuhören und Céline in «Before Sunset» den Trennungsgrund Nr. 1 als die Entfremdung, ausgelöst durch Alltagsstress, angab, scheinen Jesse und Céline genau in die gleiche alte Falle zu tappen. Scheinen? Nein, sie tun es. Sind gar schon mitten drin in der Krise, wie ein grandios geschriebener Schlagabtausch in einem Hotelzimmer offenbart. So bleibt die wohl wichtigste Botschaft des dritten Teils jene, dass auch Paare wie Jesse und Celine an den tagtäglichen Herausforderungen zu scheitern drohen. Dass allein das Zueinanderfinden nicht mehr genügt. Dass missglückte Paare nicht weniger verliebt oder füreinander bestimmt waren, als jene, bei denen die Beziehung hält. Zu welcher Gruppe Jesse und Céline gehören, wird wohl erst 2022 offiziell bestätigt. Bis dahin erhalten wir ein gewohnt offenes und zugleich subtil determiniertes Filmende.

 

 

  • Before Midnight (USA 2013)
  • Regie: Richard Linklater
  • Drehbuch: Richard Linklater, Julie Delpy, Ethan Hawke
  • Darsteller: Julie Delpy, Ethan Hawke
  • Dauer: 108 Minuten
  • Ab 6. Juni im Kino

 

Tanja Lipak / Mo, 03. Jun 2013