Winterliche Seelenlandschaften

Moviekritik: Winter Sleep
Bildquelle: 
Trigon Film Verleih

Nebelschwaden ziehen langsam über die mit feinem Raureif überzogene Erde. Es riecht nach Kälte, nach bald fallendem Schnee. Das Dorf schmiegt sich an den Hügel, scheint sich vor dem scharfen Wind zu ducken. Seine Häuser sind eigentlich Höhlen, vor langer Zeit in die blassen Felsen gehauen, die wie ausgewaschene Knochen eines riesigen Urtieres in der Landschaft liegen. Eine Landschaft, die ihrem Betrachter Schauer über den Rücken jagt, ihn unwillkürlich frösteln lässt.

 

In dieser mythisch schönen Gegend betreibt der ehemalige Schauspieler Aydin im Haus seines Vaters das Hotel «Othello». Wie ein Fels steht er im Zentrum seiner wohleingerichteten Welt, beständig und unbeugsam. Seine Zeit verbringt er mit dem Verfassen von Zeitungskolumnen und der Arbeit an einem Buch über das türkische Theater. Die Häuser, die er im Dorf besitzt, und die Menschen, die darin wohnen, interessieren ihn kaum und sind ihm eher lästig, die Mieten lässt er von seinem Verwalter Hidayet eintreiben. Seine viel jüngere und sehr schöne Frau Nihal hingegen entflieht der Eintönigkeit der Tage, indem sie Spenden für die Schulen der wirtschaftlich schwachen Region sammelt. Necla, Aydins frisch geschiedene Schwester und die dritte Bewohnerin des Hauses, wiederum langweilt sich in der Abgeschiedenheit und denkt an ihre gescheiterte Ehe.

 

Aydin geht spazieren

 

Langsam nistet sich der Winter im Dorf ein. Die Bewohner des Hotels Othello ziehen sich in die geheizten Stuben zurück und sehen sich dort mit sich selbst, ihren erfrorenen Beziehungen und erstarrten Gefühlen konfrontiert. Immer mehr entlarven die Auseinandersetzungen mit Necla und Nihal, aber auch die Begegnungen mit den Dorfbewohnern, den intellektuellen Aydin als selbstgefälligen, zynischen Mann, der es versteht, andere auf subtile, kaum merkliche Weise zu unterdrücken. Spät, vielleicht sogar zu spät, erkennt Aydin, was er dadurch aufs Spiel setzt.

 

Nuri Bilge Ceylan zeigt in «Winter Sleep»  durch brillant formulierte Dialoge Menschen, die in ihrer Menschlichkeit tief berühren. Sie sind stolz, sie werden gedemütigt und rächen sich, in dem sie andere demütigen. Sie kämpfen erbitterte Kämpfe und versuchen verzweifelt, sich selbst nicht zu verlieren in der Grausamkeit des Gegenübers. Dabei entsteht wie nebenbei das Porträt einer Gesellschaft an der Schwelle zwischen Tradition und Wandel, einer Gesellschaft, die die alten verknöcherten Strukturen patriarchalischer Macht neu aushandeln muss. Und dennoch verkommt der Film nicht zum Lehrstück oder zum rührseligen Beziehungsdrama, ganz im Gegenteil. Vielmehr erzählt er von Frauen, Männern und Kindern ohne über sie zu richten, ohne in die für den sozialkritischen Film gefährlich verführerische Schwarzweissmalerei zu rutschen. Dafür entwickelt das Meisterwerk aus der Türkei eine Bildsprache, die man derart gewaltig und berührend schön selten geniessen darf. Denn die zum UNESCO-Weltkulturerbe gehörige Landschaft Kappadokiens widerspiegelt die seelische Landschaft ihrer Figuren in ihrer rauen Wildheit so treffend, dass es einem bisweilen den Atem verschlägt ob dieser gelungenen Annäherung von Innen- und Aussenwelten.

 

Filmhandwerk auf diesem Niveau darf sich ruhig Zeit nehmen:  Von den 196 Filmminuten lohnt sich jede einzelne. So bleibt noch, den Hut zu ziehen vor der diesjährigen Jury in Cannes. Sie hat heuer «Winter Sleep» und damit einen würdigen Film mit der goldenen Palme gekürt.

 

  • Winter Sleep (Kış Uykusu)
  • Regie: Nuri Bilge Ceylan, Drehbuch: Ebru Ceylan, Nuri Bilge Ceylan
  • Darsteller: Haluk Bilginer, Melisa Sözen, Demet Akbag, Ayberk Pekcan
  • Dauer: 196 Minuten
  • Ab 27. November im Kino

 

Jasmin Camenzind / Di, 28. Okt 2014