Wie ein einzelner Ton fast einen Traum zerplatzen liess

Schon in den ersten Sekunden wird die augenzwinkernde, kreative Struktur von «Köln 75» klar. Der Film stellt einen plastischen Vergleich zu Michaelangelo an. Jeder könne heute die Sixtinische Kapelle bzw. das berühmte Mosaik sehen, aber stellt man sich vor, man hätte Michaelangelo persönlich bei der Arbeit gesehen, sei das nochmals intensiver. Es brauche aber auch Umstände, damit ein Kunstwerk, ein Moment, entstehen könne. Dieser Film handele nicht von Michaelangelo oder dem Deckengemälde, sondern vielmehr vom Gerüst, das nötig war, um das berühmte Fresko zu malen.
Rasch sind wir im Köln der frühen 70er und treffen Vera Brandes. Die quirlige 18-jährige Zahnarzttochter lässt sich vom Leben zwischen freier Liebe, Demonstrationen für die Fristenlösung und gegen Nazis, Krach mit den spiessigen Eltern und Jazzkonzerten treiben. Eines Nachts trifft sie den Jazzmusiker Ronnie Scott. Ihr loses Mundwerk macht mächtig Eindruck und plötzlich bucht Vera eine Tour für den Musiker. Wie frech und clever ihr das gelingt, unterstreicht eindrücklich, dass sie ein Talent für die Branche hat. Als sie einige Zeit später in Berlin erstmals den Improvisations-Jazzer Keith Jarrett live sieht, kommt das einer Offenbarung gleich. In Vera reift ein gewagter Gedanke. Sie will Jarrett ins Kölner Opernhaus holen. Das heisst culture clash zwischen Oper und Jazz. Also bucht sie selbstbewusst und gegen den Willen der konservativen Eltern auf eigene Faust die Kölner Oper. Der Rest ist Geschichte und im Film sehr amüsant erzählt.
Längst eine Legende
Natürlich gelingt der Coup, gilt das Köln Concert doch heute als Meilenstein der Musikgeschichte und das Album dazu ist mit über 4 Millionen Exemplaren das meistverkaufte Solo-Jazzalbum aller Zeiten. Wie Vera Brandes – die danach lange Jahre erfolgreich im Geschäft war und hunderte Konzerte organisierte – das Kunststück auf die Bühne brachte, ist kaum zu glauben, aber voller herrlicher Episoden. Eine bekannte ist das minderwertige Klavier, dass das Opernhaus wider aller Abmachungen auf die Bühne stellte. Stichwort: Kulturkampf. Jarrett drückte eine Taste und beinahe wäre der Traum geplatzt, denn der Musiker weigerte sich, das Konzert auf dem Instrument zu spielen. Doch Vera setzte sofort alle Hebel in Bewegung und es geschafft, dass der Flügel rechtzeitig bespielbar war. Auch wenn diese Geschichte heute von mancher Quelle etwas angezweifelt wird, ist sie doch längst eine Legende.
Vera Brandes ist voller Energie. (©Wolfgang Ennebach / Alamode Film)
«Köln 75» will sich aber nicht auf der eigenen Legende ausruhen, sondern darf durchaus als Plädoyer für den Jazz verstanden werden, schliesslich werden immer wieder Anekdoten und Zeitdokumente eingewebt. Richtig schlau und greifbar wird das Phänomen Keith Jarrett jenen erklärt, die ihn nicht kennen. Schliesslich ist der Mann eine Legende. An diesem Punkt im Film verlässt die Handlung Vera und vertieft Jarrett auch als Mensch. Jarrett der Virtuose, der Klangmaler, der nach Konzerten möglichst wenig Ablenkung will, um seinen Geist zu leeren. Der tiefgründig wirkende Mensch, der sich mit Spiritualität beschäftigt und irgendwie auch die Musik als eine Art von Spiritualität versteht, und der vielleicht nur darum musisch zu begeistern vermag. Für ihn war in jener Zeit Improvisieren das Credo, kein Konzert sollte wie das andere sein. Die Intensität dieser Ikonen – Konzert und Musiker – versteht der Film sehr klar einzufangen und das ist eine grosse Stärke.
Verneigung vor der Kraft der Musik
«Köln 75» ist als eine Art Teil-Mockumentary konzipiert. Beispielsweise wird immer wieder die vierte Wand gebrochen und Charaktere im Film sprechen direkt mit dem Publikum. Diese Entscheidung erweist sich als goldrichtig, da sie einerseits auflockert, aber auch geschicktes Vermitteln von Fakten ermöglicht oder Vera mit spitzen Bemerkungen für Lacher sorgen lässt. Es ist auf gewisse Weise, als würde die Geschichte zu einem sprechen, immerhin basieren die Ereignisse auf einer deutschen Legende. Einzige die kurze Rahmenhandlung – Vera leitet den Film als erwachsene Frau ein und verabschiedet uns auch wieder - wirkt zu willkürlich und will nicht so recht zum Ton des Films passen. Gerade die Schimpftirade gegen den Vater am Schluss ist leicht redundant, weil im Laufe des Films überdeutlich wird, dass Vera und er das Heu so gar nicht auf der gleichen Bühne haben. Die Gedanke der Idee ist aber nachvollziehbar, da der Film Veras Geschichte erzählt und die Ereignisse eng durch ihre Augen zeigt.
Das Drehbuch bzw. die gesamte Produktion erzählen ohne überflüssige Momente und mit angenehmem Tempo, was den Film sehr greifbar macht. Dadurch wird «Köln 75» zum würdigen Filmdokument einer musikhistorischen Begebenheit, aber auch zur Verneigung vor der Kraft von Musik im Allgemeinen.
Wie in der sixtinischen Kappelle (siehe Vergleich im ersten Abschnitt) fügt sich bei «Köln 75» ein Steinchen neben das andere und erzeugt so das Mosaik eines historischen Moments für die internationale Musikgeschichte. Das ist nicht nur für Musikliebhaber sehr unterhaltsam.
- Köln 75 (Deutschland, Polen, Belgien 2025)
- Regie & Drehbuch: Ido Fluk
- Besetzung: Mala Emde, John Magaro, Michael Chernus, Alexander Scheer, Ulrich Tukur, Jördis Triebel, Susanne Wolff
- Laufzeit: 115 min
- Im Handel ab 31. Juli 2025