Mein Freund, der Baum

DVD-Kritik: The Girl With All The Gifts
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© Impuls Film

Eingeführt in die Welt von «The Girl With All The Gifts» werden wir über Melanies Zelle. Das Mädchen, vielleicht 11, 12 Jahre alt, ist aufgeweckt und hellwach. Sofort ist klar, da stimmt etwas nicht. Wieso ist die Kleine eingesperrt? Dann hört sie Schritte. Schnell huscht sie in einen bereit gestellten Rollstuhl und sitzt still. Eine Gruppe Soldaten tritt in die Zelle und legt Melanie, die höflich Konversation machen will, aber auf Granit stösst, Fesseln an. Im Stuhl wird sie in einen Raum mit 21 anderen Kindern gerollt. Schulzeit für die, nennen wir sie mal: Auserwählten. 

 

Die Kids wirken völlig normal, das bereitet der Lehrerin Helen Justineau (Gemma Arterton, «James Bond - A Quantum of Solace») Mühe. Sie lässt Nähe zu, sieht die Kinder und nicht, was in ihnen steckt. Als nämlich der diensthabende General seinen nackten Arm unter die Nase eines Jungen hält, beginnt der danach zu schnappen. Alle Kinder im Raum verwandeln sich plötzlich in triebgesteuerte Bestien, in «Hungries». Bis der General eine Blocker-Salbe auf den Arm aufträgt. Sofort ist wieder Ruhe. Das verdeutlicht, wie die Lage aussieht. Die Menschheit ist von einem Pilz befallen, der sie in willenlose Hüllen verwandelt, die nur fressen wollen. Nur eine Gruppe Kinder, darunter Melanie, scheint eine Art Gegengift in sich zu tragen. Darum sind sie in der Armee-Basis und werden, ein Kind nach dem anderen, von der übereifrigen und zwischen Muttergefühlen und eiskaltem Rationalismus getriebenen Ärztin Caroline Caldwell (Glenn Close, TV-Serie «Damages») aufgeschnitten. Sie braucht Hirn und Rückenmarksflüssigkeit, um ein Gegengift zu finden. Besonders makaber, sie lässt jeweils in netten Gesprächen Melanie eine Zahl nennen und das Kind zur Zahl schneidet sie in der Nacht auf. Als es Melanie treffen soll und das Skalpell schon angesetzt ist, wird die Basis von «Hungries» angegriffen. Melanie gelingt zusammen mit Lehrerin Justineau, Dr. Caldwell sowie einer Handvoll Soldaten die Flucht. Sie fliehen nach London und auf der Flucht erfährt Melanie das Geheimnis um ihre Herkunft und erkennt mit der Zeit, dass sie eine Entscheidung treffen muss, die Auswirkung auf die gesamte Menschheit hat. Ist das Mädchen ein Engel der Erlösung oder der Hoffnungslosigkeit? 

 

Wille versus Instinkt

 

 

Im Film wird immer wieder auf die Geschichte der Pandora gegriffen, um symbolisch die Seuche als Plage zu verdeutlichen. Pandora hat in der bekannten Sage die Büchse geöffnet und alles Schlechte auf die Menschen losgelassen. Aber am Boden der Büchse blieb die Hoffnung zurück. Melanie kann zwar nichts für den Pilzbefall, bekommt aber die Rolle der Pandora als Hoffnungsträgerin, ohne diese zu wollen. Klug scheint sie in ihren Taten, schickt beispielsweise die Lehrerin schnell aus der Zelle, als sie merkt, wie ihr Verlangen nach Fleisch rapide ansteigt. Somit ist klar, dass Melanie die Kontrolle hat und nicht nur instinktiv handelt. Das macht die Figur der Melanie äusserst reizvoll, weil unterschwellig ständig die Bedrohung eines instinktiven Angriffs mitschwingt und man immer zwischen Sympathie und Vorsicht, ab der Macht in dem Mädchen schwankt.

 

Stillvoll fotografiert, ohne die sonst genre-üblichen hektischen Schnitte und Kamerafahrten erzählt, entwickelt sich die Geschichte langsam. Settings, gerade jenes pflanzenbewachsene in London als Beispiel, zeigen die Detailtreue, auf die Wert gelegt wurde. Die dystopische Welt entfaltet ihre volle Wirkung, weil sie unserer Realität nicht fremd ist. So zwingt der Film zum Reflektieren bzw. stellt unterschwellig die Frage nach dem «was, wenn das wirklich passiert?». Der Pilzbefall lässt sich mühelos auf verschiedene Entwicklungen der aktuellen Weltlage auslegen und das ist filmhistorisch auch nicht neu. Von Aliens über Körperfresser bis zu Vampiren mussten Kreaturen immer wieder als Symbolik für Welt-Strömungen hinhalten. Der Kommunismus bzw. die Angst davor im Hollywood der Nachkriegsjahre sei als Beispiel genannt. Das ist bei «The Girl With All The Gifts» sehr klar, ohne mit dem Holzhammer darauf herumzureiten. Der Film legt den Fokus eher auf das schlaue Mädchen, das erkennt, wie es sein Überleben sichern kann und ohne es anfangs zu wissen, mit der Lösung «beschenkt» wurde. 

 

Jungdarstellerin auf Augenhöhe mit Glenn Close

 

Sennia Nanua spielt ihn ihrer ersten Spielfilmrolle die Melanie hervorragend, verleiht ihr Menschlichkeit und Bedrohung zur gleichen Zeit. In jedem Zucken ihrer Mundwinkel erkennt man anfangs Verwirrung und Angst, die sich dann aber zunehmend legt und der Erkenntnis weicht, dass sie die Kontrolle hat, quasi die Fäden in den Händen hält. Sie spielt neben Gemma Arterton und der sechsfach für einen Oscar® nominierte Glenn Close jederzeit auf Augenhöhe. Neben den Darstellern sorgen eine wunderschöne Bildsprache und der zu jeder Zeit passende, mal pulsierende, mal hypnotische Score für die runde Inszenierung. Regisseur Colm McCarthy hat sehr gute Arbeit geliefert. Der Schotte konnte zuvor Erfahrungen bei der TV-Serie «Peaky Blinders» sammeln und hat unter anderem je eine Folge von «Sherlock» und «Doctor Who» verantwortet. Das Genre passt also. Wobei natürlich mit dem gleichnamigen Bestseller von Mike Carey (in Deutsch als «Die Berufene» erschienen) eine starke Vorlage vorhanden war. Carey hat auch das Drehbuch zur Verfilmung geschrieben.  

 

Zwar fällt der Film kurze Zeit, gerade beim Angriff der Basis, in schwache «The Walking Dead»-Flucht-Und-Töten-Standards und droht in eine 08/15-Story zu rutschen, findet aber den roten Faden schnell wieder und legt den Fokus klar auf den philosophischen Aspekt der Geschichte. Das macht den Film zum Genre-Juwel. 

 

Zombie bleibt Zombie, nur der Name ändert, hier ist es «Hungries». Spannend ist eher der Ansatz zwischen Hoffnung und Untergang und die blutjunge Hauptdarstellerin wandelt alles andere als blutleer durch die Szenerie. 

  • The Girl With All The Gifts (UK / USA 2016)
  • Regie: Colm McCarthy
  • Drehbuch: Mike Carey (Ebenfalls Autor der Romanvorlage)
  • Darsteller: Sennia Nanua, Glenn Close, Gemma Arterton, Paddy Considine, 
  • Laufzeit: ca. 112 Minuten
  • Im Handel: ab 8. Juni 2017

 

 

Patrick Holenstein / Fr, 16. Jun 2017