Je suis radikarl
Die junge Maxi verliert bei einem Bombenattentat in Berlin Mutter und Brüder. Sie und ihr Vater hadern damit, dass die Täter nicht gefasst werden, bis sie eines Tages dem charismatischen Karl über den Weg läuft. Dieser führt eine europaweite Jugendbewegung an, die die Mächtigen endlich für ihre Versäumnisse zur Verantwortung ziehen will. Nur zu gerne lässt sie Deutschland hinter sich, um mit neuen Freunden frischen Wind in die kontinentale Politik zu bringen.
Was Karl und seine Entourage da wirklich im Schilde führen, wird eigentlich schon im Trailer verraten, aber man wünscht sich, die Macher hätten diese Offenbarung weiter hinausgezögert, den Akt der Verführung etwas subtiler gestaltet. Denn leider ist es selbst für Zuschauer, die eine jede Minute ihres Geschichtsunterrichts am Fenstersims verbracht haben, hoffentlich kaum übersehbar, worauf die Bewegung abzielt. Zu deutlich die Symbolik, zu vertraut die Rhetorik.
So schöpft sogar Maxi, die nun wahrlich nicht die hellste Leuchte im Lumimart stellt und obendrein vom eigenen Trauma geblendet ist, bald Verdacht. Aber Karl entkräftet ihre Einwände charmant. Gerade davon geht seine Gefährlichkeit aus. Gleichzeitig lullt der Film die Zuschauerinnen mit zauberhaften Elektropop-Songs ein, die aufgrund ihrer – gewollt – garstigen Texte hoffentlich nie den Weg ins Internet finden werden. All die falschen Leute würden sie als Hymnen missbrauchen. Der Dark-Ambient-Soundtrack hingegen verleiht der Geschichte eine dringliche, manchmal beklemmende Atmosphäre.
Maxi folgt dem charmanten Karl ohne gross nachzudenken. (©Filmcoopi Zürich)
Als Ganzes – man muss es sagen – will der Film zu viel, und – zuletzt – zu schnell. Dieser grosse Schachzug, dieser eine Funke, den sie am Ende schlagen wollen, auf den sie lange hingearbeitet haben, ist de facto hinfällig. Längst brennt die Lunte, ist beinahe abgebrannt, und die Pulverfässer in Position. Es braucht niemand mehr mobilisiert oder mitgerissen zu werden; die Legionen stehen bereit. Die Dinge eskalieren so rasch, dass man in der zweiten Hälfte dem Eindruck erliegt, hier sei eine ganze Serienstaffel in einen einzigen Film gepackt worden.
Antworten bekommt man ebenso keine. Dafür Einsichten und Warnungen. Es wird gezeigt, wie uralte Mechanismen an die Gegenwart angepasst werden. Ein gruseliger Besuch bei tausendjährigen Vampiren, die sich als hippe Veganer verkleidet haben. Trotz einiger Abzüge wird der Film noch lange aktuell bleiben und reiht sich nahtlos in eine Serie von Klassikern, die schon Ähnliches verhandelt haben. Universell bleibt halt universell, und das Böse liebt Zalando. Luna Wedler ist dabei das Herzstück. Man kann ihr stets von den Augen ablesen, was sie gerade denkt oder fühlt. «Je suis Karl» ist frisch, dynamisch, bis hin zu stürmisch. So sehr, dass man manchmal beinahe von der Musik erschlagen wird. Dennoch sollte man ihn auf der grossen Leinwand erleben. Für Filme wie diesen wurde das Kino erfunden.
Packend erzählt, hervorragend inszeniert und geschnitten vor wuchtiger Klangkulisse. Man könnte monieren, dass den Verführern gar leicht auf den Leim gegangen wird, doch leider zeigen diese simplen Mechanismen und Parolen auch in der Realität erschreckende Wirkung. Egal, wer sich ihrer bedient.
- Je Suis Karl (D/CZ 2021)
- Regisseur: Christian Schwochow
- Darsteller: Luna Wedler, Jannis Niewöhner, Milan Peschel
- Laufzeit: 126 Minuten
- Kinostart Schweiz: 28. September 2021