Eine Entscheidung mit fatalen Folgen

Movie-Kritik: La fille inconnue
Bildquelle: 
Xenix Films

Es ist Abend, die Sprechstunde schon längst vorbei und die junge Ärztin Jenny Davin (Adèle Haenel, «Les Combattants») hat gerade eine Auseinandersetzung mit ihrem Praktikanten Julien (Olivier Bonnaud), als es an der Praxistür klingelt. Sie entscheidet sich deshalb dazu, die Tür nicht zu öffnen. Bei einem Notfall würde die Person bestimmt noch einmal klingeln, erklärt sie Julien. Bis am nächsten Tag die Polizei vor der Tür steht. Eine junge Prostituierte wurde tot aufgefunden und die Aufzeichnungen der Überwachungskamera vor Jennys Praxis zeigen, dass sie es gewesen war, die am Abend zuvor geklingelt hat. Die Ärztin kriegt die Frau nicht mehr aus dem Kopf. Geplagt von Schuldgefühlen und mit dem Wunsch der Toten wenigstens etwas Würde zurückgeben zu können, beginnt sie auf eigene Faust zu ermitteln. Ohne zu ahnen in welche Schwierigkeiten sie sich dadurch bringt.

 

Jean-Pierre und Luc Dardenne («Deux jours, une nuit», «Le silence de Lorna») stellen auch in ihrem aktuellen Film wieder eine Frau in das Zentrum ihrer Geschichte und wieder ist ein Anflug von Sozialkritik spürbar. Doch im Vergleich zu ihren früheren Werken, die an den Filmfestspielen von Cannes grosse Erfolge feierten, vermag der diesjährige Wettbewerbsbeitrag der Brüder Dardenne nicht wirklich zu überzeugen.

 

Verschlossende Figuren verwehren den Zugang

 

Das Sozialdrama stützt sich komplett auf die Hauptfigur und deren unermüdliche Suche nach der Identität der Toten. Sie fühle sich verantwortlich für den Tod der Frau, meint die Ärztin, doch emotional lässt sie sich kaum hinter die Fassade blicken. Haenels minimalistische, zurückhaltende Darstellung der Figur bewirkt, dass sie unnahbar und distanziert erscheint, auch wenn die Kamera sie ständig im Bild hat und oft in ihrer Nähe verweilt. Da die Geschichte auch sonst praktisch keine Informationen zu Jennys Hintergrund bereithält, ist sie für die Zuschauer kaum fassbar und ihre Motivation, den Fall aufzuklären, erscheint sehr konstruiert.

 

Im Allgemeinen erscheinen viele Szenen zu gestellt und die Pausen zwischen den Dialogen erwecken den Eindruck künstlich verlängert zu werden, wodurch die Gespräche abgehackt und unnatürlich wirken. In solchen Situationen wird einem das Fehlen jeglicher Hintergrundmusik schmerzlich bewusst. An anderer Stelle hingegen verstärkt der bewusste Verzicht auf Musik die Sozialkritik und hebt, genauso wie die Verwendung gedeckter Farben und die Kameraführung im Dokumentarfilmstil, die Trostlosigkeit des Alltags von Menschen, die aus den verschiedensten Gründen an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden.

 

Bemerkenswert an «La fille inconnue» ist, dass der Film sich nicht zu einem Krimi entwickelt, obwohl der Ansatz vorhanden ist. Zudem verschiebt sich der Fokus der Geschichte nicht auf das Opfer, wie man meinen könnte, sondern bleibt immer auf Jenny gerichtet. Schade nur, dass die emotionale Verschlossenheit der Figur den Zuschauern den Zugang zu ihr verwehrt. 

 

«La fille inconnue» verbindet Elemente vom Kriminalfilm mit denen des Sozialdramas und legt den Fokus auf eine Ärztin, die für etwas Gerechtigkeit und Menschlichkeit in einem gnadenlosen Milieu kämpft. Ein spannender Ansatz, dennoch vermag der Film leider nicht zu berühren oder gar aufzurütteln.

 

  • La fille inconnue
  • Regie & Drehbuch:  Jean-Pierre und Luc Dardenne
  • Darsteller: Adèle Haenel, Olivier Bonnaud, Louka Minnella, Jérémie Renier, Christelle Cornil, Nadège Ouedragogo
  • Laufzeit: ca. 107 Minuten
  • Kinostart: 3. November 2016

 

Sule Durmazkeser / Fr, 04. Nov 2016