Die Gefahr befindet sich in den eigenen vier Wänden
Die Geburtstagsparty eines Mitschülers ist vorbei, die anderen Kinder sind schon längst abgeholt worden. Nur Matías (Sebastián Molinaro) wartet vergeblich. Seine Mutter ist nicht zu erreichen. Als daraufhin die Lehrerin den kleinen Jungen nach Hause bringt, finden sie seine Mutter Laura (Julieta Diaz) verletzt am Boden liegend vor. Nach der Behandlung im Krankenhaus bekommen Mutter und Sohn Zuflucht in einem Frauenhaus. Während sich Matías dort mit einem gleichaltrigen Mädchen anfreundet und wieder Kind sein kann, kämpft seine Mutter mit ihren Ängsten und Sorgen. Sie lässt sich schliesslich dazu überreden, ihren Mann anzuzeigen, doch der Gedanke auf ihren Mann zu treffen versetzt sie in Panik und sie verlässt das Gerichtsgebäude fluchtartig. Ohne zu wissen wohin, zieht sie mit ihrem Sohn von einem Hotel ins nächste. Immer von der Angst begleitet, jeden Moment von ihrem Mann gefunden zu werden. Schliesslich entschliesst sie sich dazu, zu ihrer eigenen Mutter ins Tigre Delta am Rande von Buenos Aires zu fahren, in der Hoffnung, dass sie beide fernab der Stadt endlich zur Ruhe kommen.
Mutter und Sohn stehen sich auf der Flucht gegenseitig bei.
Häusliche Gewalt ist ein brisantes Thema, dass oft tabuisiert wird, aber leider immer noch sehr aktuell und auch sehr verbreitet ist. Regisseur Diego Lerman («La mirada invisible») blickt darauf aus der Sicht eines achtjährigen Jungen. Durch die künstlerische Umsetzung erlaubt er es dem Zuschauer, ganz nah bei Matías zu bleiben und als Beobachter in dessen Welt einzutauchen. Entstanden sind dabei Bilder, die Fragmente einer zerbrochenen Welt illustrieren. Lerman verwendet viele Detailaufnahmen und ungewohnte Kameraperspektiven. Vor allem geht der Blick oft durch Hindernisse. Man sieht das verzerrte Licht der Strassenlaternen durch die regennasse Fensterscheibe des Polizeiautos, der Mutter und Sohn ins Frauenhaus bringt, oder den Hinterkopf des Polizisten durch das Gitter, das die Rückbank von den Vordersitzen trennt. Das Gefühl selbst dabei zu sein stellt sich ein und wird immer wieder aufgenommen. Um den Aspekt der Beobachtung zu verstärken, werden vor allem im Frauenhaus viele Schnitte durch Kamerafahrten ersetzt. Immer wieder wird der Blick gehindert durch Türen, Mauern, Fenstern oder das Gitter, das die Anlage umzäunt. Ständig schwingt dabei auch immer eine latente Bedrohung mit, die ein undefinierbares Unbehagen auslöst.
Dieses Undefinierbare spiegelt die kindliche Perspektive wider, da Matías das Aus-mass des Ganzen gar nicht wirklich erfassen kann. Er spürt die Angst und Traurigkeit seiner Mutter, kann aber trotzdem nicht nachvollziehen, warum sie nicht wieder nach Hause können und warum er seinem Vater ihren Aufenthaltsort nicht sagen darf. Dass der Vater im Film nie auftaucht, nicht einmal in Form von Erinnerungen, ist eine weitere Stärke des Films. Lerman hat es sich zum Ziel gesetzt, die Gewalt nicht in Bilder umzusetzen, wodurch das Voyeuristische aussen vor gelassen wird. Laura hat Angst, fühlt sich ständig verfolgt und weiss nicht wo sie hin soll. Das ist aber schon durch die starke schauspielerische Leistung von Julieta Diaz gut nachvollziehbar, ohne dass die Prügel auch noch physisch dargestellt werden müssen.
Matias spürt, dass etwas nicht stimmt, kann aber nicht verstehen, was es ist.
So bleibt der Film bis weit über die Hälfte atmosphärisch dicht und man hofft, dass Mutter und Sohn endlich einen Ausweg finden und zur Ruhe kommen können. Allerdings treten gegen Ende die Nachteile einer kindlichen Perspektive zutage und es entstehen Längen. Vor allem nach der Ankunft bei der Grossmutter spürt man das Fehlen der Dialoge. Es werden nur Andeutungen gemacht, aber nichts wirklich besprochen. Deshalb nimmt die Intensität zum Schluss hin immer mehr ab. Wie es weitergeht bleibt offen. Auch draussen in dieser kargen, verlassenen Natur will sich das Gefühl der Sicherheit nicht wirklich einstellen.
«Refugiado» erzählt eine Geschichte über Gewalt, ohne die Gewalt zu visualisieren. Dadurch wird der Fokus auf die psychische Belastung, mit der das Opfer fertigwerden muss, gesetzt. Vor allem weil die Geschichte aus der Perspektive eines kleinen Jungen erzählt wird, ist sie umso beklemmender, da auf diese Weise vieles auch für den Zuschauer nicht fassbar wird.
Regisseur Diego Lerman ist ein spannendes Werk gelungen, das trotz des etwas befremdlichen Schlusses ein wichtiges Thema in den Vordergrund rückt und zum Nachdenken anregt.
- Refugiado (Argentinien 2014)
- Regie: Diego Lerman
- Drehbuch: Diego Lerman, Maria Meira
- Darsteller: Julieta Diaz, Sebastian Molinaro, Marta Lubos, Valentina Garcia Guerrero
- Laufzeit: 93 Minuten
- Kinostart: 12. März 2015