Das Mädchen zwischen den Seiten

DVD-Kritik: The Girl In The Book
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© Praesens Film

Die 28-jährige Alice (Emily VanCamp, «Revenge») lebt in New York und arbeitet in einem Verlag als Mädchen für alles. Während sie nach neuen Manuskripten Ausschau hält, träumt sie davon, selbst zu schreiben. Im Alter von 13 Jahren hat sie nämlich einen Schreibwettbewerb gewonnen und die Erwartungen an das talentierte Mädchen waren danach gross. Nicht zuletzt, weil der damalige Star-Autor Milan Daneker (Michael Nyqvist, schwedische «Millennium»-Trilogie) sie als Mentor unterstützte. Als Milan 15 Jahre später plötzlich im Verlag steht und mit Alices Chef über ein neues Buch reden will, bricht die Fassade der jungen Frau zusammen. Denn Milan und Alice haben ein Geheimnis, das sich wie Gift durch das Leben von Alice zieht. Sie ist «The Girl In The Book»

 

«The Girl In The Book» ist das Regiedebüt von Marya Cohn, die gleichzeitig auch das Drehbuch geschrieben hat. Dabei ist ihr die langsame Obduktion des Lebens einer jungen Frau gelungen. Die Haupt-Figur Alice lebt in der lebendigsten Stadt der Welt, stirbt innerlich aber zunehmend. Sie ist mit den schwindenden Chancen und zerbrochenen Träumen am kämpfen, während es in ihr versteckt brodelt. Mit  dem Auftritt von Autor Daneker gerät sie entgültig in eine Spirale aus Frustration, Egoismus und Sex. Emily VanCamp gelingt es ausserordentlich, Alice mit der inneren Zerrissenheit darzustellen. Sie spielt zurückhaltend, aber manchmal spricht ein Blick von ihr, zusammen mit einem durch Abscheu angespannten Gesichtsmuskel, ganze Dialoge. 

 

Spirale aus Frustration, Egoismus und Sex

 

Relativ schnell ist klar, dass 15 Jahre zuvor etwas zwischen Autor und Alice vorgefallen ist. Das Trauma steckt tief. Wie ein starkes Gift breitet sich die Vergangenheit in Alices Leben aus und auch wenn man lange nicht genau weiss, was passiert ist, befürchtet man Schlimmes. Hier liegt eine der grossen Stärken des Drehbuchs. Nie wird ganz klar gesagt, was passiert ist. Angedeutet wird vieles, schemenhaft darüber geredet und in Rückblenden gezeigt. Die Frage ist aber, ob sich Alice durch den Vertrauensbruch, «nur» für eine Geschichte interessant gewesen zu sein, verletzt fühlt, denn immerhin hat Daneker ihre Geschichte in einen Roman verwandelt, oder ob sie die unangebrachten Intimitäten getroffen haben. Aber im Karussell der Emotionen stolpert das Drehbuch über den eigenen Ehrgeiz.

 

Wie aus dem Nichts verführt Alice den Studenten, der auf den Sohn der besten Freundin aufpasst. Hier will das Drehbuch etwas zu viel, zu gesucht, zu verzweifelt wirkt diese Storyline und sie will nicht so recht zur Figur von Alice passen. Logisch, es geht um einen Bruch der Gewohnheit, eine gestörte Beziehung zum eigenen Körper, und hat selbstzerstörerische Wucht, trotzdem ist der One Night Stand zu plötzlich und dient einzig als Verstärkung der emotionalen Kälte in Alice, die für den Zuschauer eh schon überdeutlich klar ist. Man ist sowieso auf der Seite der jungen Frau. Die Promiskuität als Ventil für die abschätzige und sexuell ausbeuterische Behandlung in der Jugend hätte früher im Film ein Thema sein müssen, denn so wirkt sie aufgesetzt. Ausserdem lassen Alice Freunde sie nach diesem Fehler gnadenlos fallen. Etwas schwierig nachzuvollziehen, wenn man nicht weiss, wie Alice bisher gelebt hat bzw. wie geschickt sie sozial agiert. Das geht etwas unter.

 

Aber diese kleinen Schönheitsfehler bremsen das Drehbuch nicht allzu sehr und schaden dem ruhigen, unaufgeregt erzählten Film nur wenig, denn mit «The Girl In The Book» gelingt ein angenehmer Low-Budget-Film, der zu keinem Zeitpunkt wertend ist. So wird er Autor nie als Scheusal dargestellt, sondern als Mensch mit fragwürdigen moralischen Ansprüchen. Natürlich geht er zu weit, aber das ist nie ein Thema im Film, weil das nicht der Fokus des Films ist. Der Zuschauer darf allerdings selbst urteilen. Will man Alice in den Arm nehmen? Übertreibt sie masslos und verbindet die Ausnutzung in der Jugend auch noch mit der kühlen Beziehung zum Vater? Nutzt sie gar die Vergangenheit als Entschuldigung? Was wäre, wenn Milan Daneker nicht erneut in Alices Leben getreten wäre? Hätte sie den Rank trotzdem bekommen? Egal, welche Perspektive man verfolgt, die feinfühlige Story packt. 

 

Alice ist das Mädchen aus dem Roman eines Erfolgsautors. Damit muss sie leben und wie sie das macht, zeigt dieser Indie-Film überzeugend.

 

  • The Girl In The Book (USA 2016)
  • Regie & Drehbuch: Mayra Cohn
  • Darsteller: Emily VanCamp, Michael Nyqvist, Ana Mulvoy-Ten 
  • Laufzeit: ca. 92 Minuten
  • Im Handel: 18. November 2016

 

 

Patrick Holenstein / Mi, 23. Nov 2016