Reset: Gurten neu 840 M.ü.M

Festivalkritik: Gurtenfestival 2017
Bildquelle: 
Bäckstage / © Seraina Thuma

Das diesjährige Gurtenfestival befand sich in einer Art Reset-Phase. Statt wie üblich à la Gausssche Glockenverteilung* zu verlaufen (langsames Einstimmen am Donnerstag, Partymarathon am Freitag und Samstag und dann das gemeinsame Batterienauftanken am Sonntag) verwandelte sich das Festival kurzzeitig in eine viertägige Partyburg.

 

 *Links: Beispiel für die Gausssche Glockenverteilung, Gurten bisher. Rechts: Gurtenfestival 2017.

 

Mittwoch: «Royal Blood» lieferte - vielleicht als einzige Band - guten alten Rock’n’Roll am neuerdings eher Rap-orientierten Gurtenfestival. Mit Macklemore & Ryan Lewis» wurde die 20‘000 Besucher Kapazität des Festivals vor Mitternacht geknackt. Später animierten House of Pain das ganze Zelt - und all jene drumherum - nochmals in ihre Jungend zu hüpfen. Die Altmeister bewiesen, dass sie’s immer noch draufhaben und keinen Millimeter an Coolness und Power eingebüsst haben. 

 

Donnerstag: Der vielleicht beste Tag des Festivals. Mit Sicherheit der Tag mit dem meisten Lokalpatriotismus. Von Pegasus über Jeans for Jesus, Nemo, S.O.S. zu den nun endgültig mit der Hauptbühne gekrönten Gurtenkönigen Lo & Leduc. Gutes aus der Region war massenweise vorhanden. Der Gastauftritt von Manillio und Tommy Vercetti am Lo & Leduc-Konzert komplettierte das lokale Stelldichein. Ein wenig aus diesem konzeptionellen Programm fielen Imagine Dragons. Ausgefallen ist bei ihnen dann auch noch die Technik. Aber Profi ist, wer trotz Pannen ruhig bleibt und so absolvierten die aus Las Vegas stammenden Musiker wider aller Umstände eine erfolgreiche und emotional bewegende Show. 

 

 

Gurten-Galerie mit u.a. Imagine Dragons, Beginner, Pegasus, Casper: Fotos © Seraina Thuma

 

Freitag: Nach dem vollen Programm am Tag zuvor, hatten es die Künstler am Freitag nicht leicht. Viele Gurtenbesucher nahmen sich Freitag vor für Züri West und Casper zu kommen und alles andere aus Müdigkeitserscheinungen fallen zu lassen. Umso glücklicher waren jene Seelen, die doch früher erschienen und Lucky Chops in vollen Zügen genossen. Keine Band gewann dermassen viele neue Fans wie die Blas-Orchestertruppe aus New York. Züri West lieferten danach souverän, aber ohne grossen Nachhall. Für Stimmung sorgten vor allem die alten Hits der Berner Band. Die Reserven der Festivalbesucher forderte an diesem Tag einzig und allein Casper ein. Mit einer energetischen und fulminanten Show blieb er allen als gerngesehener Gast in Erinnerung. Wer bei Casper in Fahrt kam, verschlang es kurz vor Mitternacht zu SDP. Was sich dort dann ereignete, kann als «Schäm Dich Prolett» zusammengefasst werden. SDP lieferten fragwürdige Songtexte, eine geschmackslose Show und zwei Lead-Sänger, die einer Dieter Bohlen-Casting-Show entsprungen sein könnten. 

 

Samstag: Die Kalifornier von Saint Motel brachten am Nachmittag nicht nur die Zuschauer, sondern auch die Security vor der Hauptbühne zum Tanzen. Ähnliche Szenen gab es später am Abend in der Bamboo Bar, wo der viel gehypte Crimer schön zappelig seine Synthie-Songs vortrug. Kurz vor Zehn Uhr abends begann mit den Beginnern der Abschluss des Festivals. Die alten Bekannten um Jan Delay sorgten für fröhliche und ausgelassene Stimmung, bevor mit Materia anschliessend der Abriss stattfand. Wer sich zwischen Mischpult und Hauptbühne befand, wurde von der tanzenden Menge brutal auseinander gespickt. Am Ende des Spektakels suchten sich die getrennten Gurtenbesucher freudenstrahlend. Gefunden haben sich viele schliesslich vor der Waldbühne bei Bonaparte. Der Berner Iggy Pop sorgte mit seiner wilden und sehr sinnlichen Show für eine gelungene Nacht.

 

Marteria in der Aare  

 

Im Rückblick ist geblieben: Fast jeden Tag gab es irgendwo auf einer Bühne oder im Publikum ein Happy Birthday. Folgende Geburi-Kinder sind uns geblieben: Noah Veraguth (Leadsänger von Pegasus) feierte am Donnerstag seinen 30sten auf der Bühne, wie auch Dan Reynolds (Leadsänger von Imagine Dragons) am Folgetag. Ein wenig älter vermuten wir den Drummer von Bonaparte, welchem am frühen Sonntagmorgen das Publikum ein Liedlein schenkte. Neben Geburtstagswünschen gab es auch viele Aare-Schwimmer. So manch ein Act prahlte vom erfolgreichen Treiben in der kühlen Erfrischung. Am stolzesten wohl Casper, gefolgt von Materia, der gleich ein Instagram-Video als Beweis postete. Und die wohl bleibendste Erinnerung mag der Hausberg selbst abgekommen haben. Von House of Pain über Lo & Leduc zu Casper und Materia, alle forderten dermassen wildes Hüpfen, dass der Berner Hausberg wohl tatsächlich neu 840 Meter über Meer misst (anstatt 858 Meter über Meer), wie am Donnerstag von Lo prognostiziert.

 

Erstmals fand das Gurtenfestival von Mittwoch bis Samstag statt und die Rechnung ist für die Veranstalter aufgegangen. Erstmals überhaupt war das Gurtenfestival an allen vier Tagen ausverkauft. 

 

Der Gurten lebt. Heute gefühlt mehr als je zuvor.

 

Tanja Lipak / Mo, 17. Jul 2017