Unfreiwilliger Roadtrip zweier ungleicher Brüder

Movie-Kritik: Simpel
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© DCM Film Distribution (Schweiz) GmbH

Barnabas (David Kross, «Der Vorleser») liebt Erdbeeren – er nennt sie Quasilorten, denn er hat für so manchen Alltagsgegenstand eine eigene Bezeichnung. Er liebt es auch, zusammen mit Stofftier Monsieur Hasehase stundenlange Entdeckungsreisen im Watt zu unternehmen, und ganz besonders liebt er seinen Bruder Ben (Frederick Lau, «Victoria»). Barnabas, von allen nur «Simpel» genannt, ist Anfang 20 – doch geistig auf dem Niveau eines Kleinkindes. Es verbindet ihn eine innige Beziehung zu seinem Bruder Ben, der sich nicht nur um ihn, sondern auch um ihre schwerkranke Mutter kümmert. Als diese stirbt, droht Simpel in ein Heim abgeschoben zu werden. Doch Ben bringt es nicht übers Herz, ihn einweisen zu lassen. Kurzerhand entwischen sie den Behörden und machen sich mehr oder weniger freiwillig auf, um ihren Vater aufzusuchen, der mit seiner neuen Familie in Hamburg lebt. Unterwegs treffen sie auf die unterschiedlichsten Menschen und geraten durch Simpels Unbedarftheit und Neugier in einige brenzlige Situationen, bis sie schliesslich bei der Medizinstudentin Aria (Emilia Schüle, «High Society»), die sie unterwegs aufgegabelt und in die Stadt mitgenommen hat, Unterschlupf finden. Doch dank Simpel ist die Ruhe nur von kurzer Dauer.

 

Mit «Simpel» gelingt Regisseur Markus Goller («Frau Ella») eine turbulente und warmherzige Tragikomödie, die besonders durch die starke darstellerische Leistung von Frederick Lau und David Kross überzeugt. Die Chemie zwischen den beiden Darstellern stimmt von Anfang an, wodurch eine realistische, innige Beziehung entsteht, die zutiefst berührt. Verzweiflung, Trauer, Wut, Hilflosigkeit, aber auch bedingungslose Liebe und Empathie – Ben erlebt wegen Simpel ein Wechselbad der Gefühle und lässt das Publikum daran teilhaben.

 

Die beiden Brüder im Hamburger Hafen. (© DCM Film Distribution (Schweiz) GmbH)

 

Regisseur Markus Goller schrieb das Drehbuch gemeinsam mit Dirk Ahner («Frau Ella») frei nach der Vorlage des gleichnamigen Jugendromans der Autorin Marie-Aude Murail. Für die Filmemacher sollte Simpels Behinderung nie im Mittelpunkt des Films stehen, vielmehr ging es um die Darstellung ungefilterter, grenzenloser Gefühle, die Simpel auf seine Weise zum Ausdruck bringt und dadurch in seinem Gegenüber etwas auslöst. So haben denn auch Markus Goller und David Kross für Simpel eine eigene Art der Behinderung entwickelt, die diesem Zweck dienen soll, weshalb im Film dann auch nicht gross darauf eingegangen wird. Dennoch kommt man bei Zuschauen nicht umhin, Ähnlichkeiten zu Lasse Hallströms Film «Gilbert Grape – Irgendwo in Iowa» aus dem Jahr 1993 mit Johnny Depp («Fluch der Karibik»-Reihe) und Leonardo DiCaprio («The Wolf of Wall Street») zu finden.

 

Besonders zugutehalten kann man dem Film seine realistische, wertfreie Herangehensweise an ein schwieriges Thema. Er verfällt nicht ins Sentimentale, gibt seine Figuren, insbesondere Simpel, aber auch nie der Lächerlichkeit preis. Der Roadtrip bietet zudem eine Gelegenheit, die unterschiedlichsten Figuren auf Simpel treffen und auf ihn und seine Behinderung reagieren zu lassen, woraus ganz spannende und bisweilen vom Zuschauer unerwartete Szenen entstehen. Denn Simpels Behinderung bedeutet vor allem, dass er seine Umwelt wie ein kleines Kind wahrnimmt und sich dementsprechend verhält – offen, ehrlich und direkt. Das kommt natürlich nicht überall gleich gut an und bringt vor allem seinen Bruder immer mal wieder an den Rand der Verzweiflung. So setzt der Film den Fokus allgemein auf den Umgang miteinander und vor allem auf Bens aufopferungsvollen Kampf dafür, dass Simpel bei ihm bleiben kann. 

 

«Simpel» zeigt mit viel Fingerspitzengefühl und Empathie die unzerstörbare Beziehung zweier ungleicher Brüder und überzeugt mit grossartiger schauspielerischer Leistung. Eine gelungene Gratwanderung zwischen Tragik und Komik.

 

  • Simpel 
  • Regie: Markus Goller
  • Drehbuch: Dirk Ahner und Markus Goller, inspiriert vom Roman von Marie-Aude Murail
  • Besetzung: David Kross, Frederick Lau, Emilia Schüle, Devid Striesow, Axel Stein, Anneke Kim Sarnau, Annette Frier
  • Dauer: 113 Minuten
  • Kinostart: 11. Januar 2018

 

Sule Durmazkeser / Do, 11. Jan 2018