Ein Knabe findet die Welt

Movie-Kritik: The Boy and the World
Bildquelle: 
Filmverleih Gruppe

Text von Thomas Hügli

 

Ein Knabe ohne Namen, ohne Mund und ohne Stimme. Eines Tages verlässt ihn sein Vater und der Junge beschliesst ihn suchen zu gehen. Er tritt seine Reise an, mit dem einzigen Foto in der Tasche, welche die vereinte Familie zeigt. Sorglos und überzeugt, seinen Vater wiederzufinden, bricht er zum Abenteuer auf. Der Junge macht eine lyrische und träumerische Reise durch eine fantastische Welt, die von Tiermaschinen und merkwürdigen Kreaturen dominiert wird. 

 

Durch die Augen des Kindes werden die Probleme der modernen Welt aufgezeigt. Der Junge ist leicht und fliegt, vom Wind in die Lüfte gehoben und von den Wolken getragen, erblickt er die Erde von oben. Er erinnert sich sehnsüchtig an die Melodie der Flöte, die der Vater für ihn gespielt hat und versucht sein Glück auf Baumwollfeldern, wo die Menschen täglich eine mühsame, sich endlos wiederholende Arbeit leisten müssen, welche nur die Stärksten unter ihnen aushalten. Der Junge begegnet zuerst einem Landarbeiter, der eben diese Arbeit nicht mehr verrichten kann und trifft später einen Mann, der ganz oben in der Stadt wohnt und allerlei fröhliche Musik produziert, die sich immer in farbigen Flecken auflöst. 

 

Umgekehrtes Portugiesisch

 

Er taucht ein in die gewaltige Stadt mit ihren Baustellen, ihren enormen Container-Cargos, ihren Verarbeitungsfabriken und ihren schwebenden Luxuszentren. Er hofft seinen Vater am Bahnhof zu treffen und glaubt seinen Vater aus dem Zug aussteigen zu sehen. Doch er merkt schnell, dass sich alle Menschen gleichen: gerädert, niedergeschlagen, zermalmt und vorzeitig gealtert. Sie gleichen alle Phantomen. Der Knabe wohnt dem makabren Spektakel des industriellen Rausches an, der die Menschen reduziert und die Natur zerstört. Der Junge kehrt nach Hause aufs Land zurück. Er ist gross geworden. Der Baum, den er vor Jahren mit seinen Eltern gepflanzt hat, ist ebenfalls gross geworden.

 

In «The Boy and the World» nähert sich Alê Abreu so nah als möglich seiner Figur, indem er den Blickwinkel des Kindes zur narrativen und ästhetischen Voraussetzung macht. Das betont der Promotext zum Film und erklärt weiter, dass der Stil auf dem Fluss und Rückfluss von Leere und Fülle basiere. «Eine weisse Seite, die sich nach und nach füllt und sich wieder auflöst und sich neu definiert gemäss intuitiven, klanglichen oder sinnlichen Harmonien. Das Weiss ist wie ein Kind, das zur Welt kommt», sagt der Regisseur, «und beginnt zu lernen und Wissen zu speichern». Den Film hat er konzipiert ohne je die Musik aus dem Blick zu verlieren, deshalb wurden namhafte Musiker für den Score verpflichtet. Der Film ist wie eine Oper, in der die Musik in der Erzählung eine wichtige Rolle einnimmt. Für die wenigen Sprachsequenzen und Dialoge zwischen der Mutter und dem Vater wurde ein umgekehrtes Portugiesisch einstudiert, eine kreative Freiheit, die einen anderen Planeten darstellt.

 

Alê Abreu erzählt seine Geschichte mit einem philosophischen Hintergrund und gesellschaftskritischen Aspekten, die zum Denken anregen und auch melancholische, ja traurige Momente verursachen. Alle Länder Lateinamerikas waren Kolonien, Lieferanten von Rohstoffen und billiger Arbeitskräfte. Zudem haben diese Länder, um die wirtschaftlichen Interessen zu garantieren, an Staatsstreichen und Militärdiktaturen gelitten. Die Welt, welche der kleine Junge entdeckt, ist diese Realität.

 

Eine bittere Parabel über die Erkenntnis, wie die Welt wirklich ist. Realismus, verpackt in feine Animationen. 

  • The Boy and the World (Brasilien 2013)
  • Animationsfilm von Alê Abreu
  • Laufzeit: ca. 80 Min
  • Kinostart: 24.Dezember 2015

 

Bäckstage Redaktion / Do, 24. Dez 2015