Abgründe in einer konstruierten Welt

Movie-Kritik: Anomalisa
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© Universal Pictures International Switzerland.

Michael Stone (gesprochen von David Thewlis) fliegt 2005 auf Geschäftsreise nach Cincinnati, um sein neuestes Buch zur Call Center Optimierung an einer Tagung vorzustellen. In der Nacht vor der Tagung irrt er in seinem Hotel umher, trifft Gesichter aus seiner Vergangenheit und lernt die Telefonverkäuferin Lisa (gesprochen von Jennifer Jason Leigh) kennen. Eine Begegnung, die sein Leben verändern könnte.

 

Wenn man einen von Charlie Kaufman («Being John Malkovich», «Eternal Sunshine of the Spotless Mind») geschriebenen und in diesem Fall auch dirigierten Film schaut, weiss man nie, was einen erwartet. Bei «Anomalisa» handelt es sich um einen Stop-Motion Film, in dem echte Puppen in echten Sets interagieren. Die Entfremdung durch die Puppen, die alle maskenhaft aufgesetzte Gesichter tragen und sich für Stop-Motion typisch abgehackt bewegen, passt sehr gut zum Kaufman-Skript. Seine klassischen Themen sind da: Einsamkeit-Zweisamkeit, Gleichsein-Anderssein, und die Menschlichkeit in Zwischenmenschlichkeit werden besprochen.

 

Puppenpenis und Entfremdung

 

Dadurch, dass die Puppen bis auf die beiden Hauptfiguren von nur einem Synchronsprecher (Tom Noonan) gesprochen werden und allesamt ähnlich aussehen und sich bewegen, wird beim Zuschauer von Anfang an ein Gefühl des Unheimlichen erzeugt, ein Zweifeln an der Echtheit der Figuren und der dargestellten Welt. Tatsächlich sind es ja auch Puppen und eine konstruierte Welt, die wir sehen. Ein Fakt, der gut zum Konsumismus und Materialismus passt, die dargestellt werden: Michaels Sohn interessiert beim Telefonieren mit seinem Vater nur, welches Geschenk er mitbringen wird. Lisa und ihre Freundin verkaufen generische Produkte am Telefon, und Michael selbst konsumiert Alkohol und Zigaretten am laufenden Band.

 

«Anomalisa» ist in den USA Rated R, also ein Film für Erwachsene. Das hat mit dargestellter Körperlichkeit zu tun. Einerseits sieht man den Penis der Hauptfigur in mehreren Szenen, andererseits gibt es die wohl intimste und echteste Sexszene zwischen zwei Puppen, die man sich vorstellen kann. Die Diskrepanz zwischen der Nähe der beiden Hauptfiguren und die bereits erwähnte Entfremdung gegenüber allem Anderem und allem Gleichen verstärkt die jeweiligen Momente.

 

Der Stil der Animation, die Belichtung und die Kameraführung unterstützen die zweifelnden Figuren und den zurückhaltenden, zum Teil aber auch humorvollen Dialog. Die Identifizierung und Entfremdung zu den Puppen und gleichzeitig ihre Intimität und Interaktion zueinander, die man als Zuschauer empfindet, geht einem erschreckend nahe. 

 

Charlie Kaufmans Skript und Stil machen den Film zu einem Instant Classic.

 

  • Anomalisa (USA 2015)
  • Regie: Duke Johnson, Charlie Kaufman
  • Drehbuch: Charlie Kaufman
  • Stimmen: David Thewlis, Jennifer Jason Leigh, Tom Noonan
  • Laufzeit: ca. 90 Minuten
  • Kinostart: 21. Januar 2016

 

 

Jonas Stetter / Do, 21. Jan 2016