Christian Jungen: «Wir sehen viel mehr Rohschnitte»

ZFF 2022: Interview mit Christian Jungen
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Pressebild / ©Andreas Rentz, Getty Images for ZFF

Christian Jungen befindet sich in seinem dritten Jahr als Festivalleiter des Zurich Film Festivals. Wie es ihm kurz vor dem Start so ergeht, welche Lehren er aus den letzten beiden Jahren gezogen hat, auf welche Stars und Sternchen wir uns freuen können und wie gut seine Tanzkünste sind, verriet uns Christian Jungen im Interview.

 

In ein zwei Wochen geht es los mit der 18. Ausgabe des Zurich Film Festivals, die dritte Ausgabe mit dir als Leiter. Wie geht es dir?

 

Jetzt ist die heisse Phase, in der täglich Meldungen mit Bestätigungen oder Absagen kommen. Aufgrund von Covid wurden viele Drehs verzögert oder verschoben, so sind die Titel viel später fertig. Wir sehen viel mehr Rohschnitte als in den letzten Jahren und schauen sehr viele Filme. Und ich arbeite viel nachts, da ich mit Los Angeles koordinieren muss und die Zeitverschiebung neun Stunden beträgt. Es sind sehr lange und intensive Tage im Moment.

 

Heisst das, dass du, obwohl du ein Programmationsteam hast, jeden Film, der gezeigt wird, auch selbst gesehen haben wirst?

 

Ja, fast jeden, etwa 90 Prozent der Filme. Wir haben 160 Filme, die wir zeigen und wir schauen uns etwa 3200 Filme im Zuge der Programmation an. Die einen Filme werden eingereicht, die anderen Filme «chasen», also suchen und verfolgen wir. Wir haben ein Vorkostersystem und nicht jeder Film kommt bis zu mir, aber ich schaue etwa 1000 Filme pro Jahr. In dieser Phase sind es ca. 4 - 5 Filme, die ich pro Tag schaue. Es mag sich komisch anfühlen, aber wir haben zurzeit Tage, an denen wir den ganzen Tag im Kinosaal verbringen. Irgendwann kommt man raus und merkt «Ah, es wäre ja eigentlich Sommer».

 

Bei Parfümtests riecht man ab und zu an Kaffee, damit man die Nase neutralisiert. Wie neutralisierst du deinen Kopf bei so vielen Filmvorführungen?

 

Ich schreibe immer ein Kurzprotokoll zu jedem Film. Was hat mir gefallen, was nicht.  Damit man dies später wieder hervorziehen kann. Ich versuche generell einfach gesund zu leben. Nach dem ersten Festival bin ich komplett in ein Loch gefallen. Dann habe ich angefangen Tennis zu spielen. Ich habe mich bewusst für etwas entschieden, dass ich noch nicht beherrsche, etwa Russisch lernen. Und ich trinke 100 Tage vor dem Festival keinen Alkohol mehr. Das sind alles Dinge, um möglichst gut in Form zu sein und die Screening-Marathons durchstehen zu können.

 

 

Ich mag Filme wie «Green Book» oder «La La Land». Intelligentes Hollywoodkino nenne ich es.

 

 

Als Filmjournalist oder auch als Kulturredaktor konntest du Filme easy bewerten. Nun geht es beim Zurich Film Festival nicht nur um deinen Geschmack. Wie gehst du damit um?

 

Wir haben ein Team von neun Programmern, das sehr divers zusammengestellt ist. Ich halte persönlich nicht jeden Film, der ins Programm kommt, für ein Meisterwerk. Wir diskutieren zusammen und wenn die Mehrheit findet, dass der Film gut ist, dann laden wir die Filmemacher ein. Es gibt für mich einfach gewisse Grenzen. Ich bin ein Gegner von expliziter Gewalt oder sogar Gewaltverherrlichung, da würde ich sicher mein Veto einreichen. Ich bin auch nicht der grösste Fan von Horrorfilmen.

 

Dann gibt es kein «MAD HEIDI» am ZFF?

Doch, den zeigen wir. «MAD HEIDI» ist ein feministischer Trash-Film, ein sehr ironischer Film und bitterböser Absgesang auf nationale Mythen. Ich fand der Film hat wahnsinnig viele Ideen, du weisst nie was als nächstes kommt. Aber wir werden auch den alten Heidi Film von 1952 zeigen. Das gibt einen guten Kontrast.

Ergänzung von Christian Jungen am 17.09.2022: Der Film «MAD HEIDI» hat im Ticketsale abgeräumt, schon nach wenigen Tagen waren sämtliche Vorstellungen restlos ausverkauft und das obwohl wir den Film gross programmiert haben. Die Premiere findet im Kongresshaus mit 1‘300 Zuschauenden statt. Deshalb haben wir entschieden ein zusätzliches Screening im Kino Corso zu organisieren, damit noch mehr Leute diesen Film sehen können. Und es freut uns von Zurich Film Festival ausserordentlich, dass so ein innovativer Film - es ist eine Verballhornung von Heidi - auf so grossen Anklang stösst beim breiten Publikum.

 

Welche Filme sprechen Dich an?

Jedes Programm eines Film-Festival hat auch ein wenig die Handschrift eines Festivalleiters. In den ersten zwei Jahren hat man vielleicht gemerkt, dass ich ein Freund des Erzählkinos bin, dass Kino auch emotional sein muss. Ich bin nicht der allergrösste Fan irgendwelcher Stilübungen, die man aussitzen muss. Ich mag Filme wie «Green Book» oder «La La Land». Intelligentes Hollywoodkino nenne ich es.

 

Das passt ja sehr gut zum Zurich Film Festival.

 

Das Interessante ist ja, dass wir beim Zürich Film Festival mit dem Hollywoodkino gross geworden sind. Mit den Stars. Das hatte damals noch etwas Subversives, weil das Feuilleton darüber das Näschen gerümpft hat, auch dasjenige der NZZ. Ich weiss noch, als Sylvester Stallone gekommen ist, schrieb die NZZ, dass dies ja gar nicht gehe, wenn man als Festival erst genommen werden möchte. Ich fand immer, warum nicht? «Rocky» hat den Oscar für den besten Film gewonnen, in einem Jahr, in dem auch so grossartige Meisterwerke wie «Taxi Driver» und «All the President’s Men» nominiert waren. Ich sage immer: «Hollywood macht die besten und auch die schlechtesten Filme, die es gibt». Man muss sich halt einfach auf die guten fokussieren.

 

Und Sylvester Stallone war für «Rocky» auch als Drehbuchautor für den Oscar nominiert.

 

Genau. «Rocky» ist eigentlich ein Autorenfilm nach reiner Lehre wie sie die «Cahiers du Cinéma» definiert hat. Der Film hat eine eigene Handschrift. Sylvester hat den Film geschrieben und die Hauptrolle übernommen, mehr Auteur als das geht ja gar nicht mehr. In meiner Dissertation gab es ein ganzes Kapitel darüber, dass alle grossen Actionsstars eine eigene Handschrift besitzen, wie beispielsweise Truffaut oder Goddard eine gehabt haben. Arnold Schwarzenegger oder Sylvester Stallone prägen ihre Filme sehr durch die Art wie sie spielen und machen die Filme dadurch unverwechselbar.

 

Könnten wir in diesem Fall Tom Cruise mit «Mission Impossible» am diesjährigen Zurich Film Festival sehen? Oder ist das zu hoch gepokert.

 

Nein, nicht weil ich ihn nicht in Zürich haben wollen würde, sondern, weil der Film soeben ins nächste Jahr verschoben wurde. Sonst würde ich Tom Cruise sofort einladen.

 

Mit «Sounds» eröffnet ihr dieses Jahr am Zurich Film Festival eine neue Selektion. Du hast vorhin «La La Land» erwähnt. Welche Musikfilme haben dich geprägt?

 

«La La Land» ist so ein Film. Den habe ich am ZFF zum ersten Mal gesehen. Sonntagabend im Corso 1, die Leute waren ganz hin und weg vom Film. Der Film baut durch die Musik eine hohe Emotionalität auf. Wenn ich down bin, höre ich auf Youtube gerne eines dieser Lieder. Die Songs besitzen eine Melancholie und trotzdem auch eine sehr positive Seite, dieser Mix gefällt mir sehr. Los Angeles ist ja eine Stadt von Optimisten, wo man die Chancen sieht und nicht die Probleme. Ich bin auch ein grosser Fan von Wim Wenders und er hat einen sehr engen Bezug zur Musik. Die Musik ist in seinem Filmen immer sehr wichtig, so auch in «Paris, Texas». Wir haben die Weltpremiere eines Films der «CAN and me» heisst, über Irmin Schmidt, der für die Musik bei all den Wim Wenders-Filmen verantwortlich war. Irmin Schmidt wird auch nach Zürich anreisen und ein Konzert zum Besten geben.  Wir haben auch einen Zugpferd-Film, «Taurus», in dem Machine Gun Kelly, der Freund von Megan Fox, die Hauptrolle spielt und er wird vor Ort sein. Er ist in seiner Welt ein grosser Star mit 9 Millionen Followern auf Instagram. Ich habe damals in meiner Journalistenzeit immer gesagt, man muss aufpassen, dass man nicht ein alter Sack wird. Mit so einem Film holen wir die cool kids of Zurich ab.

 

Du hast es selber vorhin erwähnt, bewegte Bilder und Musik bringen Emotionen, bringen die Menschen zusammen. Am diesjährigen Neuchâtel International Film Fantastic meinte Filmemacher Justin Benson, dass Kinos die neuen Kirchen sind? Wie stehst du dazu?

 

Ich habe letztes Jahr an der Eröffnungsrede gesagt, dass Kino das Mittel der Empathie ist, weil man die Welt durch die Augen von Menschen sehen kann, die völlig anders sind als man selbst. Ich bin Katholik. Aber weder die Kirchen noch die Kinos sind die ganze Zeit voll. (lacht) Was Kino und Kirche gemeinsam haben, ist, dass sie zu den letzten Orten gehören, wo die Handys mal ausgeschaltet sind, zumindest bei den zivilisierten Menschen. (lacht) Es sind auch Orte, an denen die verschiedenen Generationen zusammenkommen. Wir haben die Premiere von «De Räuber Hotzenplotz», da werden wir wohl alle drei Generationen begrüsse können, Grosseltern, Eltern und die Kinder.  Das Kino ist der Spiegel des Lebens, der einem wie ein biblisches Bildnis Sachen vom Leben aufzeichnen kann. Insofern hat dieser Vergleich schon etwas. Während eines Festivals ist das Kino auch eine Art Kathedrale, wenn ich an unseren grünen Teppich denke und wenn dann der Einzug ins Corso 1 kommt. Es gibt viele Analogien.

 

 

Das Schöne am Kino ist ja, dass man einen Film mit fremden Menschen schaut, und über die Emotionen zusammen verbunden wird.

 

 

Du bist auch einer der grossen Vertreter davon, dass man Filme im Kino schaut und nicht zuhause vor einem kleinen Bildschirm - oder schlimmer noch - vor dem Laptop oder Smartphone.  Das Kongresshaus ist ab diesem Jahr neu als Aufführungsort mit von Partie und mit über 1000 Plätzen der grösste Saal, mit der grössten Leinwand der Schweiz. Liegt das Motiv für die Wahl des Kongresshauses im Filmerlebnis, damit die Zuschauer eben merken, dass es doch anders ist als zuhause?

 

Wenn du mich zu irgendeinem Film aus den Neunziger-Jahren befrage würdest, beispielsweise «Before Sunrise» oder «Titanic», könnte ich dir genau sagen, wo ich den Film gesehen habe und mit wem ich den Film geschaut habe. Filme, die ich im Kino gesehen habe, prägen sich mir immer viel besser ein. Ich habe den Kontext besser in Erinnerung, als wenn ich ihn auf dem iPad streame. War ich mit einem Date unterwegs oder mit meiner Schwester? Wenn ich auf einem Flughafen auf dem iPad einen Film schaue, ist der viel schneller aus meinem Gedächtnis. Dann memorisiere ich Bilder viel schlechter. Es ist auch eine kulturelle Errungenschaft des Abendlandes, dass man Dinge zusammen erlebt. Egal, ob es sich dabei um Theater oder Kino handelt. Die Automatisierung, wo jeder Kultur für sich konsumiert, führt, so denke ich, schon zu einer Verarmung in der Gesellschaft. Das Schöne am Kino ist ja, dass man einen Film mit fremden Menschen schaut, und über die Emotionen zusammen verbunden wird. Weil man zusammen lacht, zusammen weint oder zusammen erschrickt. Das habe ich persönlich sehr gerne. Ich war letzte Woche in Kalabrien in den Ferien, aber mir fehlt dort dann das Kino.

 

Du hast vorhin «Before Sunrise» erwähnt, einer deiner Lieblingsfilme. Du hast, soweit ich weiss, deine Frau damit angesprochen, dass sie dich an Julie Delpy erinnert, und eure gemeinsame Tochter habt ihr nach Julies Figur Céline benannt. Mehr Fantum geht nicht.

 

Alles korrekt, du siehst das Kino spielt in meinem Leben eine relativ grosse Rolle. (lacht)

 

Nun sind erneut neun Jahre vergangen, aber es kam kein vierter Teil raus. Wie gehst du damit um?

 

Wir haben mit «Sachertorte» einen Film im Wettbewerb, welcher mich ein wenig an «Before Sunrise» erinnert, als eine Art Neuauflage, und den ich gerne als eine Art Lückenfüller sehe für den nicht gedrehten vierten Teil. Ein Hauch «Before Sunrise» ist also auch dieses Jahr bei uns dabei. (lacht) Es handelt sich um die Filmpremiere eines Streaming-Anbieters, von Amazon.

 

Wie einfach ist die Zusammenarbeit mit den Streaming-Anbietern als Film Festival? Gibt es Konkurrenzdenken?

 

Lustigerweise sind Streamer für uns super einfach und angenehm in der Zusammenarbeit. Wie beispielsweise Netflix, die bringen dann auch Talents mit ans Festival. Letztes Jahr kam Paolo Sorrentino mit «Die Hand Gottes». Dieses Jahr haben wir die Europapremiere von «Im Westen nichts Neues», einer grossen Prestige-Produktion mit Daniel Brühl. Netflix, they care. Die kommen vor dem Festival nach Zürich, um das Kino zu inspizieren und zu schauen, wie die Technik ist. Die schicken nicht einfach einen Film und lassen den durch uns abspielen. Amazon, Netflix und Apple sind quasi Ersatz der Studios. Lustigerweise hat in keinem anderen Produktionshaus der Regisseur mehr Freiheiten als bei Netflix. Mit kommt es vor wie die alte Welt, wie die goldene Ära der Hollywood Studios. Die Geschenkkörbe der Streamer sind noch sehr alte Schule. (lacht) Sie haben auch gemerkt, dass Zürich eine wichtige Etappe für Filme sein kann, die später Oscar gewinnen möchten. Wir sind so eine Art Referenzfestival geworden. Von den letzten zehn Filmen, die in der Hauptkategorie «Best Picture» gewonnen haben, waren sechs am Zürich Film Festival zu sehen. «Green Book» hatte sogar seine Europapremiere in Zürich.

 

Wie einfach ist es die grossen Stars nach Zürich zu locken?

 

Wenn es auf dem Dienstweg klemmt, muss man schauen, ob man jemanden kennt, der ein gutes Wort einlegen kann. In dieser Beziehung wurde es aber einfacher. Wir sind nun in unserer 18. Ausgabe, sind immer noch ein Teenager, können immer noch frech sein, sind aber auch schon erwachsener als vorher. Und da schon viele grosse Stars Zürich besucht haben, macht es dann auch einen viel grösseren Eindruck, wenn man jemanden einlädt und sagen kann «Diesen Preis haben vorher Sharon Stone, Juliette Binoche oder Cate Blanchett erhalten». Dann weiss der Stars, dass wir relevant sind. Dies spielt immer eine grosse Rolle. Aber bei uns ist die Stadt auch ein Magnet. Ich bin immer wieder überrascht, wie gerne die Amerikaner wegen Zürich selbst anreisen. Für die einen ist das Dolder Hotel das Non-Plus-Ultra, der andere freut sich auf das Kunsthaus und Hugh Jackman fuhr mit dem Velo um den Zürichsee. Der Game Changer Award geht dieses Jahr an Michael Barker und Tom Bernard, Studiobosse und Gründer von Sony Picture Classics. Sie feiern ihr dreissigjähriges Jubiläum, haben schon fast 200 Oscarnominationen erhalten und über 40 Oscars gewonnen. Viele der Filme mit Frauen in der Hauptrolle oder auch LGBT-Filme wie «Call Me by your Name». Wir möchten sie auch deshalb auszeichnen, weil sie viele Europäer in Amerika vermittelt und Namen wie Almodóvar oder Wim Wenders nach Amerika gebracht haben. Ich habe sie bei einem Mittagessen in New York getroffen und dann kam raus, dass Michael Barker die Steinerschule im Basel-Land besuchte und Tom Bernard ist mit einer Schweizerin verheiratet. Ich bin immer wieder überrascht, wie viele Menschen eine Beziehung zur Schweiz haben. Wir sind zwar ein kleines Land. Als ich studierte, dachte ich immer die Schweiz sei voll langweilig, man müsse ins Ausland gehen. Dabei ist die Schweiz nicht nur landschaftlich hinreissend, sondern ein lässiges Land. Kulturell haben wir viel zu bieten. Und was ebenfalls mitwirkt: das Kino hat in Zürich einen – sorry für die Wortwahl – verdammt hohen Stellenwert. Für mich ist der Sechseläutenplatz in dieser Hinsicht symbolisch. Wir haben das Opernhaus, das Le Paris, das Arthouse Flagship Kino, und daneben das Mainstreamkino Corso, alle drei auf Augenhöhe. Im Vergleich dazu ist der Film in Deutschland immer nur am Kindertisch, kulturell gesehen. In Zürich kommt auch die Elite ans Festival. Mir hat grad ein Studioboss von Disney in Deutschland erzählt, dass an der Berlinale darunter gelitten wird, dass die Bundeskanzler oder Bundespräsidenten nicht bei der Eröffnung anwesend sind. Und ich mache nun zum dritten Mal das Festival und zum dritten Mal darf ich den Bundespräsidenten, dieses Jahr Ignazio Cassis, begrüssen. Dies macht enorm Eindruck. Nicht dass die Stars wissen, wer Ignazio Cassis ist, aber wenn man vom «President of Switzerland» spricht, macht das schon Eindruck. Die Stars sind auch immer beeindruckt, wie grossartig unsere Kinos sind. Im Ausland werden die nicht so gut unterhalten wie bei uns. Die sind dann recht – pardon my french – recht abgefucked. Jedes Kino hat bei uns eine eigene Identität.

 

 

Die Deutschen sind fast die dankbarsten Gäste, sie haben bereits ein positives Vorurteil über Zürich, das ist sehr schön.

 

 

Spanien ist dieses Jahr Gastland am Zurich Film Festival. Was beeindruckt dich am spanischen Kino? Wie würdest du es charakterisieren?

 

Das spanische Kino hat mich immer schon fasziniert, wobei es lange von den Übervätern Almodóvar und Banderas und Übermutter Cruz geprägt war. Die finde ich alle natürlich auch super. Aber es gibt so viel mehr. Nun gibt es eine neue Generation von Filmemachern, insbesondere weiblichen Filmemacherinnen, die von den Spannungen in der Gesellschaft erzählen, häufig in familiären Konstellationen. Spanien ist sehr ein spannendes Land. Es ist sehr progressiv, vor allem was die LGBT-Themen betrifft, trotz Präsenz der Kirche. Auf der anderen Seite gibt es sehr viel unfinished Business, beispielsweise zur Franco-Zeit. Die Aufbereitung des ETA Terrorismus im Baskenland ist auch so ein Thema. Nun scheint genügend Zeit vergangen zu sein, damit man sich diesen Themen annehmen kann. Es ist ein Kino, das vibriert. Länder mit Spannungen begünstigen gutes Kino. Goddard hat immer gesagt, «Das gute an Problemen ist, dass sie Themen für die Kunst abwerfen». In der Schweiz leben über 130’000 aus Spanien kommende Menschen, wobei damit jene gemeint sind, die noch den spanischen Pass haben, wahrscheinlich sind es eher doppelt so viele, weil es viele eingebürgerte Personen gibt. Die spanische Community freut sich sehr, dass wir nun Spanien als Gastland haben. Wir spüren, dass sehr viele Spanier ans Zürich Film Festival kommen werden. Es wird auch Flamenco-Abende geben. Es ist schön zu merken, wie viel Freude sie haben und wie gerne sie die Extrameile gehen, um uns zu helfen. Auch der Botschafter.

 

In dem Fall bist du schon am Tanzstunden nehmen?

 

Oh nein, ich hatte über viele Jahre hinweg eine spanische Freundin und musste die Tortur durchmachen. Wobei Merengue noch einfach ist, aber Flamenco ist nicht my cup of tea.

 

Der diesjährige Hashtag ist #myReligion. Was verbirgt sich hinter dieser Wahl?

 

Es gibt ein Comeback der Religion auf der Welt at large. Wenn man schaut, wie die orthodoxe Kirche in Russland beiträgt, den Krieg zu rechtfertigen. In den USA genau dasselbe, wo die Abtreibung wieder verboten vom höchsten Gericht wurde. Das Kino ist ein Seismograf der Gesellschaft, der reagiert und häufig antizipiert, was im Tun ist. Es gibt viele Filme, in denen die Religion eine Rolle spielt im Leben der Protagonisten. Solche Filme wollen wir zeigen. Wir leben zwar in einer vermeintlich säkularen Welt, aber du musst nur einmal an der Oberfläche kratzen und die Themen sind alle wieder da. Bis wir wirklich eine säkulare Gesellschaft werden, braucht es noch drei weitere Generationen. Jede und jeder von uns hat noch eine strengreligiöse Mutter, Grossmutter, Grossvater. Die Themen stossen immer noch auf Interesse. Wir haben auch Filme über Ersatzreligionen. Menschen, die Dinge obsessiv machen, sei es Yoga oder Kochen. Der Hashtag ist thematisch kuratiert und unter #myreligion findet man Yogafotos oder Bodybuilderfoto, das gibt eine sehr spannende Filmreihe.

 

Du warst in deiner Zeit als Filmjournalist und bist in deiner jetzigen Rolle als Festivalleiter in einer reaktiven Position gegenüber Filmen. Du schaust sie an, beurteilst sie, nimmst sie evtl. mit deinem Team ins Programm. Aber was für einen Film würdest du selbst drehen, wenn du könntest? Also proaktives Filmemachen.

 

Man hat mir immer gesagt ich hätte einen Frauenfilmgeschmack, ich würde glaube ich eine Romanze machen. Ich finde nach wie vor, dass «Boy meets Girl» etwas vom Lässigsten ist zum Schauen. Ich würde schon in eine Richtung gehen wie «Before Sunrise». Ich bin frankophil und liebe das französische Kino, weil es weitgehend ohne Waffen und Gewalt auskommt, dafür gibt es mehr Liebe und Sex. Und weil es aus den vermeintlichen Niederungen des Alltages sehr spannende Geschichten schöpfen kann. Filme, die character-driven sind, bei denen die Figuren einen Wandel durchmachen. Ich habe auch immer gerne Roadmovies gehabt, die an einer sozialen Realität vorbeiführen und je weiter man geht, desto näher kommt man sich selber oder der Person, die im Kino mit einem reist. Ich muss gestehen, ich werde nie - ausser es gibt einen dramatischen Turn in meinem Leben – einen Film drehen. Ich kann dies nicht. Ich war mal in der Kommission im Bundesamt für Kultur, um Drehbücher zu begutachten. Ich kann einschätzen, ob ein Thema Potential hat, ob es ankommt bei den Leuten, darin bin ich immer gut. Aber ich könnte weder Drehbücher schreiben noch Filme regieren. Ich schaue viel lieber den fertigen Film und sage, was ich daran gut finde.

 

Auf was können wir uns sonst noch freuen beim diesjährigen Zürich Film Festival?

 

Til Schweiger kommt wieder zurück ans Festival. Ein sehr angenehmer Zeitgenosse, we hit it off. Er ist auch ein sehr cleverer Geschäftsmann. Er liebt Zürich, er wollte schon einmal ein Haus hier kaufen. Dann ging er aber doch nach Hamburg, weil es ihm zu teuer war. (lacht) Er stellt seinen neuen Film vor, bei dem er Regie führt und die Hauptrolle spielt. Der Film heisst «Lieber Kurt». Til Schweiger ist by far einer der grössten deutschen Stars, seine Filme machen 7.6 Millionen Kinoeintritte in Deutschland aus. Wie Tom Cruise ist er ein Star, der seit 30 Jahren präsent ist und nie verschwunden ist und seit 30 Jahren abliefert. Auch Tom Cruise hat man immer belächelt, aber sieh da, der reisst sich den Arsch auf, geht nach Cannes, geht nach Barcelona auf die Convention. Das Kino, wenn es nicht untergehen möchte, braucht die Til Schweigers und Tom Cruises dieser Welt. Ich habe letztens meine Coiffeuse gefragt, wen sie gerne in Zürich hätte, wenn sie wählen könnte. Und sie meinte Vin Diesel oder Til Schweiger. (lacht) Die Deutschen sind fast die dankbarsten Gäste, sie haben bereits ein positives Vorurteil über Zürich, das ist sehr schön.

 

Dann hoffe ich kommt auch Sarah Kuttner, welche den Roman «Kurt» schrieb.

 

Hast du es gelesen?

 

Ja, ich war auch an ihrer Lesung im Kaufleuten. Und sie freut sich sehr über die Verfilmung.

 

Es ist ein sehr emotionaler Film, wenn du das Buch gelesen hast, weisst du das. Es zeigt, wie man dank der Liebe Schicksalsschläge überwinden kann. Ich denke, dieser Film wird sehr gut am Zurich Film Festival funktionieren, weil das Publikum schon recht apathisch und abgestumpft ist von all den Bad News um uns herum, mit Corona oder dem Krieg in der Ukraine. Die Leute suchen die Emotionen in den Kinos. Eines meiner Learnings als Festivalleiter bisher ist, dass du als Festival Geschichten erzählen musst, die Leute kommen ans Zurich Film Festival und wollen Emotionen. Das wird der Film auslösen.

 

* Das Programm zum ZFF ist ab sofort verfügbar: Filmprogramm

* Ab dem 12. September (12:00 Uhr) gibt es Tickets: Alle Infos

 

Dieser Artikel ist Teil einer Contentpartnerschaft mit zuerich24.ch

 

Tanja Lipak / Di, 06. Sep 2022