Der Wunsch, einen Roman zu schreiben, ist grössenwahnsinnig

Lesung: Openair Literatur Festival
Bildquelle: 
Dumont Buchverlag / © Sam Tyson

Fast alle Stühle, die auf der kleinen Wiese neben dem Glaspavillon des Botanischen Gartens platziert wurden, sind belegt. Der Abend beginnt mit einer kurzen, zuweilen zynischen - man möchte sagen Tages Anzeiger-typischen Einleitungsrede - von Guido Kalberer, seines Zeichens Ressortleiter von Kultur & Gesellschaft des besagten Blattes. 

 

Dann startet die eigentliche Lesung: Olga Grjasnowa, geboren 1984 in Baku, Aserbaidschan, mit 11 Jahren nach Deutschland gezogen, liest aus ihrem Debütroman «Der Russe ist einer, der Birken liebt». Darin beschreibt sie den Untergang einer jungen Frau, die durch den Tod ihres Freundes an ein nie verarbeitetes Kindheitstrauma erinnert wird und in die Fremde flieht. Während die angehende Dolmetscherin versucht, in Israel neuen Halt zu finden, zerfliessen Erinnerung und Gegenwart mehr und mehr, ein Neuanfang ist nicht in Sicht. 

 

«Im Kerzenschein, denn Strom gab es nur noch selten und Kerzen waren eigentlich auch rar, nahm meine Mutter mit ihren Pianistenhänden die Fische aus.»

 

Während die Stadtzürcher Dämmerung langsam den Himmel überzieht, wirkt der Alte Botanische Garten wie eine gut isolierte Insel, zu der kaum ein Strassengeräusch durchzudringen vermag. Ein stark gerolltes «r» verrät Grjasnowas russische Herkunft, und gerade dieses Holprige macht ihre Stimme umso angenehmer und erotischer. Die Stimme passt wie die Faust aufs Auge zu Grjasnowas Protagonistin Mascha: Verführerisch, provokant, dabei doch auch verletzlich. Wie Olga selbst - deren königsblaues Oberteil perfekt auf ihr rot schimmerndes Haar abgestimmt ist - ist auch Mascha in Aserbaidschan geboren und kam später nach Deutschland. Ist dieser Roman demnach nur die Verarbeitung der eigenen Migrationsgeschichte? Dies verneint Olga Grjasnowa: Zwar ist das geschilderte traumatische Erlebnis einem Bekannten ihrer Eltern tatsächlich so passiert, doch Grjasnowa selbst hat einiges über die Vergangenheit ihrer einstigen Heimat nachrecherchieren müssen, um die Geschichte authentisch erscheinen zu lassen.

Und das ist ihr durchaus gelungen: «Der Russe ist einer, der Birken liebt» verknüpft geschickt die Frage nach Herkunft mit den alltäglichen Problemen einer gut integrierten Migrantin, die sich, wie jede andere auch, durchs Leben zu schlagen versucht - und scheitert. 

 

«Zusammen betrachteten wir schweigend, was man hier den Himmel nannte, und das, was hier einmal das Land darunter gewesen war und sich nun nur noch erstreckte.» 

 

Die kurzhaarige Dorothee Elmiger wirkt wie das literarische, tiefgründigere Pendant zur frisch gewählten Miss Schweiz. Melodisch-monoton liest die 1985 in Wetzikon geborene Brünette aus ihrem Erstling «Einladung an die Waghalsigen». Darin lässt sie die Schwestern Fritzi und Margarete, die verbliebene Jugend eines einstigen Kohlegebietes, nach einem geheimnisvollen Fluss suchen. Elmiger zeichnet dabei das düstere Landschaftsbild einer Gegend, die dem Untergang geweiht ist. In dieser an David Lynch erinnernden Endzeitstimmung wird der Fluss zur einzigen Quelle von Bewegung, zum einzig lebendigen - abgesehen vom weissen Pferd Bataille, das im Verlauf des Buches zu den Schwestern stösst. 

Auch Elmigers Geschichte dreht sich um die Suche nach Herkunft, auch hier sind die Protagonistinnen junge Frauen, die versuchen, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Insbesondere die Mischung aus fragmentarischem Erlebnisbericht und technischer, montanwissenschaftlicher Erläuterungen, die schlussendlich die unheilschwangere, statische Atmosphäre nur noch verstärken, machen Einladung an die Waghalsigen zu einem überaus lesenswerten Buch.

 

«Bin ich jetzt eine Autorin?»

 

Im anschliessenden Gespräch mit Guido Kalberer wird deutlich, dass sich die beiden Frauen noch etwas schwer tun mit der Rolle der Autorin. Trotz der zahlreichen Auszeichnungen, die Elmiger und Grjasnowa für ihre Romane erhalten haben, würden sie sich nach eigener Aussage auf einem Hotel-Anmeldeformular eher als Studentinnen bezeichnen. Doch trotz aller Zweifel, etwaigem Grössenwahn und sonstigen Hindernissen - so gestand Olga Grjasnowa, sie sei leider sehr faul, während Dorothee Elmiger nur morgens schreiben kann - arbeiten beide Autorinnen bereits an neuen Werken. Man darf also gespannt sein. 

 

 

Im Rahmen des Openair Literatur Festivals finden noch bis zum 14. Juli regelmässig Lesungen im Alten Botanischen Garten statt. Eine Übersicht der lesenden Autoren findet sich hier: Openair Literatur Festival.

 

Tamara Schuler / Mi, 10. Jul 2013