Akzeptiere den Softie in dir!

CD-Kritik: Nothings Real von Shura
Bildquelle: 
Plattencover

Shura, das «Blue Ball Face» am diesjährigen Blue Balls Festival in Luzern, veröffentlichte ihr Debütalbum «Nothing’s Real» unter dem Label Polydor Records - ein karamellisiertes Audioerlebnis.

 

Wie lautet die Definition von süss? Zum allgemeinen Verständnis möchte ich mal eben den Duden hervorholen, der einige Varianten zur Bedeutung des Worts bereithält: 

 

1. a) in der Geschmacksrichtung von Zucker oder Honig liegend und meist angenehm schmeckend; nicht sauer, bitter

b) in seinem Geruch süßem Geschmack entsprechend

 

2. a) (gehoben) zart, lieblich klingend und eine angenehme Empfindung hervorrufend

b) (emotional) [hübsch und] Entzücken hervorrufend

c) (emotional, oft gehoben) eine angenehme Empfindung auslösend

 

3. [übertrieben] freundlich, liebenswürdig 

 

Das entspricht in etwa den Sinneseindrücken, die ich während dem Hören von Shuras Erstling bekam. Mit «Nothing’s Real» serviert uns die englische Künstlerin ein üppiges Dessert aus 13 Songs, davon zwei Skits, und einer Gesamtlänge von rund einer Stunde; gefüllt mit bis ins kleinste Detail durchproduzierten Kompositionen, überzogen von einer dicken Schicht 80‘s Pop und mit viel Liebe zum Genre gebacken - in Shuras eigener Küche wohlgemerkt, denn das meiste hat sie selber kreiert. Sämtliche Songs sind eingängig, es gibt keinen nennenswerten Tiefpunkt, dafür herrscht Ohrwurm-Hochkonjunktur. Das flotte «What’s It Gonna Be?», die Kombination des mitreissenden Takts und der engelsgleichen Klangfarbe Shuras, begleitet von sanften Synthies, wäre in den 80ern ein garantierter Hit gewesen. «Touch» bekommt das Prädikat: «sexiest Song of the Record», mit ein wenig West-Coast-Feeling im Beat, von dem es passend eine Version mit Rapper Talib Kweli gibt (oder unpassend, Kweli stammt aus Brooklyn NY). In «What Happened To Us?» geht es musikalisch ausgezeichnet und textlich mit Bewährtem weiter. Alles dreht sich um Herzschmerz, aber wer hätte bei einem Pop-Album politisch brisante, geschweige denn inkorrekte Inhalte erwartet? Diesbezüglich bleibt es süss. Von zu viel bekommt man Karies, oder? Mag sein, aber in kleinen Dosen ist es vollkommen unschädlich - also ruhig mal zugreifen. Geschimpft wird auch nicht, selbst das beliebte f-wort taucht nirgendwo auf (wie ungewohnt). Somit haftet dem Album kein «Parental Advisory» für Anstössigkeiten an, was der primären Zielgruppe von Universal nur dienlich ist.

 

«Make It Up» ist dank der funky Rhythm-Guitar-Riffs einer meiner klaren Favoriten. Insgesamt muss man das Album für seine rhythmischen Arrangements loben, denn die sind vom Feinsten - eine perfekte Harmonie aus Bass und Drums, dem meist reduzierten Einsatz von Gitarren- und Synthesizern und selbstverständlich Shuras Gesang, der klar im Vordergrund steht: kein Ton zu viel, aber auch keiner zu wenig. Vor dem Release von «Nothing’s Real» erfuhr die Single-Auskopplung «2shy» im Netz einen kleinen viralen Hype, dem Shura ihren momentanen Status als Newcomerin und ich denke mal die Platzierung als «Blue Balls Face 16» am Luzerner Festival verdankt.

 

Shure - «2Shy»

 

Das Blue Balls vertritt Mainstream-Music in der Schweiz, daher prognostiziere ich der Glücklichen einen ordentlichen Push von ihrem Label. Die Verantwortlichen von Universal Music glauben offenbar an das kommerzielle Potential der Scheibe und das sollte man. Etliche Male fühlte ich mich an alte Sachen von Phil Collins erinnert und lasst uns ehrlich sein - der Mann ist ein Weltstar mit zahlreichen Auszeichnungen, der einige der vergleichsweise wenigen Popsongs geschrieben hat, die man wirklich als zeitlos bezeichnen kann.

 

Wie unvergänglich Shuras Werk ist, wird sich in den nächsten Jahren zeigen, die 24-Jährige steht am Anfang ihrer Karriere. Musikalische Höhepunkte erzeugt sie für mein alternativ-gestimmtes Gehör erst gegen Ende mit den beiden letzten Songs, die mit einer gemeinsamen Länge von 20min (inklusive Pausen und Ghosttracks) ein Drittel des Albums ausmachen! «White Light» ist definitiv eine klassische Single mit eingängiger Melodie und perfektem Aufbau. Der besondere Teil beginnt bei 4min42s, wenn der Popsong aufhört, sphärische Synthie-Sounds sich mit langgezogenen Gitarrenklängen abwechseln, aufbauen und anschliessend in einem Indie-rockigen Ausbruch explodieren. 

@Shura - bitte mehr solche Passagen im nächsten Album. 

Ganz zu Schluss kommt dann wirklich zum Vorschein, was sich über das ganze Album vereinzelt angedeutet hat - sie könnte auch anders. Der letzte Song «Space Tapes» fällt im Gesamtwerk völlig aus dem Konzept. Grundsätzlich ist er eine Art Remix aus drei Songs, den man am besten als psychedelischen Trip-Hop bezeichnet und der nach 3.23 sogar mir zu trippy wurde #i-doser. Ja am Ende wurde es sogar ein bisschen salzig.

 

Über das ganze Album und in Anbetracht dieser Überdosis künstlerischer Süssungsmittel, kann ich selber nicht genau sagen, wieso ich das Album mag. Vielleicht liegt es daran, dass unser Hirn ohne eine Mindestmenge Zucker nicht funktionieren würde. Vielleicht hat es damit zu tun, dass man die Ehrlichkeit und Leidenschaft von Shuras Musik spüren kann - das klingt wahrscheinlicher und auch süsser. Sie ist keine Britney Spears, Lady Gaga oder Katy Perry. Shura ist Pop-Musik mit Stil, zeigt für mich, dass Pop als Genre nicht bloss eine Existenzberechtigung hat, sondern eine Zukunft. Ich kann insbesondere meinen männlichen Artgenossen nur empfehlen, manchmal den Softie in einem zu akzeptieren und sich dem zarten Kitsch lieblicher Klänge zu ergeben. Egal ob man privat sonst eher zu härteren Sounds tendiert; sei es Metal, Rap, geräuschartiger Dubstep, was auch immer. 

 

Shuras «Nothing’s Real» ist garantiert nichts für musikalische Diabetiker, aber stille Geniesser, die es öffentlich ungern zugeben.

 

  • Künstlerin: Shura
  • Album: «Nothing’s Real»
  • Veröffenltichung: bereits im Handel erhältlich
  • Shura spielt (gemeinsam mit Kultruppe Air) am 22. Juli am Blue Balls. Tickets gibt es beim Ticketcorner

 

 

Alexander Schenker / Fr, 15. Jul 2016