Interview mit Michael Kraemer: «Mich faszinieren vor allem die Klänge verschiedener Sprachen»
Der Musiker Michael Kraemer war in Deutschland als Musiker sehr aktiv, bis er aus persönlichen Gründen die Heimat in Richtung Brasilien verlassen hat. Lange hat er der Musik abgeschworen, bis es ihn vor ein paar Jahren wieder packte. Mit den Einflüssen der neuen sowie der alten Heimat hat er sich an den kreativen Prozess gemacht und entstanden ist das Album «Im Ausland zu Hause». Wir konnten mit Michael über seine Musik, das Songwriting, aber auch Einflüsse aus beiden Welten - Europa und Südamerika - sprechen.
Bäckstage: Du hast dich entschieden, von Deutschland nach Brasilien auszuwandern. Bereits in Deutschland warst du Musiker und auch jetzt in Südamerika schreibst du Songs. Wie unterscheidet sich die Musikszene Brasiliens mit jener in Europa?
Michael Kraemer: Sowohl in Deutschland als auch hier in Brasilien hatte ich das Glück, mit extrem talentierten Musikern zusammenarbeiten zu dürfen. Bei mir liegen inzwischen ja gut 20 Jahre zwischen meiner Zeit in der deutschen Musikszene und meinen Erfahrungen hier in Brasilien. Was mir am meisten aufgefallen ist – und ich persönlich schade finde – ist die heute extrem geringe Anzahl von jungen Bands. Von Freunden aus Deutschland habe ich gehört, dass die Situation in Deutschland wohl ähnlich ist. Es gibt zwar viele – und sehr gute – Musiker. Die meisten spielen aber in mehreren verschiedenen Projekten und haben nicht mehr «ihre» Band. Mich hat damals Mitte der 90er Jahre gerade diese Idee fasziniert: Teil einer Band zu sein – einer festen Gruppe von Freunden, die fast jede freie Minute mit Songschreiben, Proben und vor allem gemeinsam auf der Bühne verbringt.
Spielst du auch in Brasilien Konzerte? Wie erlebst du das Publikum in Brasilien?
Bisher sind noch keine Shows in Brasilien geplant. Ich war hier aber natürlich schon auf zahlreichen Konzerten und die Energie, die dabei vom Publikum ausgeht, ist unglaublich intensiv und ansteckend. So eine Energie kannte ich aus Europa nicht. Fast jeder kennt die Texte auswendig, feiert, tanzt und singt mit voller Seele mit.
Ich würde gerne auf das Album «Im Ausland zu Hause» kommen. Es wirkt irgendwie entspannt und doch emotional. Bei manchen Lyrics entsteht der Eindruck, dass du nicht ein Leben (in Deutschland) hinter dir gelassen hast, sondern eher deinen Kosmos – sowohl privat als auch musikalisch – um ein neues Kapitel erweitert hast. Täuscht der Eindruck?
Das trifft es sehr gut. Gleichzeitig spiegelt das Album das Gefühl wider, nicht nur Teil einer einzelnen Kultur zu sein und in diesem hybriden Raum ein Zuhause schaffen zu können – in diesem Niemandsland, das am Ende nur uns gehört.
Meine «Honeymoon Phase» und meinen «Kulturschock» habe ich damals in São Paulo erlebt, meine «Anpassungs-» und «Akzeptanz-Phase» hier in Florianópolis. In «Ausland-Zuhause» geht es genau um diesen Übergang in meinem Leben – vom Kulturschock hin zu Anpassung und Akzeptanz.
Im Song «Ausland-Zuhause» thematisierst du diese Verbindung zwischen zwei Welten. Wie wichtig war für dich die Musik bei diesem Prozess des Ankommens in einem neuen Land?
Nach dem unerwarteten Verlust meines Freundes Willem im Jahr 2003 habe ich bis zum Beginn der Pandemie komplett mit dem Musikmachen und Textschreiben aufgehört. Im April 2006 bin ich nach Brasilien gezogen und hatte zum Musikmachen schon eine gewisse Distanz entwickelt. Beim Ankommen hat mir damals vor allem das Wissen über die «Auswanderungskurve» geholfen. Dadurch konnte ich die verschiedenen Phasen, die die meisten Auswanderer emotional durchlaufen, besser einordnen. Meine «Honeymoon Phase» und meinen «Kulturschock» habe ich damals in São Paulo erlebt, meine «Anpassungs-» und «Akzeptanz-Phase» hier in Florianópolis. In «Ausland-Zuhause» geht es genau um diesen Übergang in meinem Leben – vom Kulturschock hin zu Anpassung und Akzeptanz.
Ich könnte mir vorstellen, dass Auswandern mit ganz unterschiedlichen Emotionen verbunden ist. Aufbruch, neue Lebensumstände, Vergangenheit, Zukunft. Das sind alles Themen, die du lyrisch behandelst. Wie sehr ist das Album Ergebnis deiner Erlebnisse und Emotionen rund um das Verschieben des Lebensmittelpunktes? Und war die Arbeit am Album eine Möglichkeit, diese zu verarbeiten?
Vor allem während der Arbeit am Text und auch am Clip zu «Ausland-Zuhause» war es tatsächlich so, dass ich – mit etwas zeitlichem Abstand – meine Erfahrungen als Auswanderer reflektieren und verarbeiteten konnte. Das war ein sehr wohltuender Prozess. Bei den anderen Songs geht es nicht explizit ums Auswandern. Da die Texte jedoch Geschichten aus meinem Leben erzählen, gibt es immer wieder Berührungspunkte zu diesem Thema – zum Beispiel in «Weil du fehlst»: Grenzen verwischt, zu Neuland durchgedrungen.
Du hast als Musiker ein Herz für Klänge. Mit dem Triple aus «Zu viel», «Zu oft» und «Zu viel zu oft», bei dem du einen bestehenden Song von dir einmal eher europäisch und auch im südamerikanischen Kleid aufgenommen hast, und zum Schluss noch im Mix, verbindest du beide Welten in deinem Herzen. Was steckt hinter dieser Idee? Wie ist das gekommen?
Dieses Triple – insbesondere die Ukulele-Version von «Zu viel» – markiert für mich den Übergang von der ersten Phase des Projekts zur zweiten. In der ersten Phase bin ich bewusst dem Modell «brasilianische Rhythmen + deutsche Texte» gefolgt. In der neuen Phase gibt es kein übergeordnetes Konzept mehr – die Arrangements entstehen jetzt vollkommen organisch, und es gibt auf dem Album auch Songs mit englischen Texten.
Michael Kraemer - «Zeit im Raum»
Vermutlich hat Brasilien viele neue Einflüsse für dich zu bieten. Wie hast du den passenden Mix für das Album gefunden?
Auch hier war es eine organische Entwicklung. Während der Arbeit an «Where Else Would I Be» hatte ich das Gefühl, dass sich ein Kreis schließen will. Diesem Gefühl bin ich gefolgt und habe auf dem Doppel-Vinyl nahezu alle Songs vereint, die seit der Pandemie entstanden sind. «Where Else Would I Be» ist deshalb auch der letzte Song auf dem Album. Gleichzeitig ist es auch der letzte Song, den ich damals mit meinem Freund Willem geschrieben habe. Da wir die erste Minute der Originalaufnahme aus dem Proberaum vor über 20 Jahren beibehalten haben, ist Willem auch auf dem Album zu hören.
Wie hat sich die Musik von Brasilien, wo du lebst, generell auf deine Musik bzw. dein künstlerisches Verständnis ausgewirkt? Erlebst du Musik mit den südamerikanischen Lebensumständen anders?
Während der ersten Phase des Projekts, in der ich Songs mit verschiedenen brasilianischen Rhythmen aufgenommen habe, hat sich sicherlich die Basis meines Repertoires erweitert, und es gibt für mich inzwischen mehr Musikstile, die sich vertraut anfühlen. Ich würde aber nicht sagen, dass ich Musik deshalb heute anders erlebe als früher.
Ich höre in deinen Songs Klavier, aber auch Gitarren und Instrumente, die ich nicht so klar zuordnen kann. Welche Instrumente kannst du spielen? Hast du vielleicht typisch brasilianische Instrumente neu gelernt?
Ich spiele Klavier – und seit «Zu viel» auch etwas Ukulele. Im Studio hatte ich zum Spaß auch mal eine Cuíca in der Hand. Für mich verkörpert sie eigentlich den typischsten brasilianischen Sound. Zu hören ist sie zum Beispiel bei «Klappe zu».
Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich zu Beginn meiner Bandzeit unzählige Male dieselben Songpassagen angehört habe, um die englische Aussprache der ersten Songs, die wir gecovert haben, möglichst genau hinzubekommen.
Welches Instrument nutzt du, um zu komponieren?
Seit meinen Bandzeiten schreibe ich eigentlich fast alle meine Songs zusammen mit Freunden – vor allem mit Sandro Jahn oder meinem Bruder Christian. Meine Melodien entstehen dabei direkt beim Singen, sodass ich mich eigentlich nur für den Feinschliff ans Klavier setze.
Wo entsteht deine Musik? Bevorzugst du vielleicht eine bestimmte Tageszeit? Eine gewisse Stimmung?
Viele Ideen entstehen kurz vorm Aufwachen und beim Joggen am Strand. Zum Texten setze ich mich am liebsten auf meine Dachterrasse – unter freiem Himmel und mit Blick aufs Meer.
Du singst auf dem Album Deutsch sowie Englisch und hast bei «Zeit im Raum» ein Intro in Französisch. Wie sprachaffin bist du? Wie siehst du die Sprache als Mittel zu Vermittlung von Inhalten?
Mich faszinieren vor allem die Klänge verschiedener Sprachen. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich zu Beginn meiner Bandzeit unzählige Male dieselben Songpassagen angehört habe, um die englische Aussprache der ersten Songs, die wir gecovert haben, möglichst genau hinzubekommen.
Obwohl lange Zeit auch Englisch und Portugiesisch die Sprachen waren bzw. sind, die ich im Alltag am häufigsten spreche, ist Deutsch natürlich nach wie vor meine Muttersprache – und die Sprache, in der ich mich am liebsten ausdrücke.
Du bringst das Album bewusst auf Vinyl heraus. Was steckt hinter diesem Entscheid?
Meine Inspiration, meine Geschichten zu erzählen und sie in einem physischen Format festzuhalten, war mein Opa. Kurz nach meinem Umzug nach Brasilien hatte er gerade ein Buch über sein Leben fertiggestellt. Ich erinnere mich, dass ich dieses Buch an nur einem einzigen Tag verschlungen habe.
Es ist ein sehr wohltuendes Gefühl zu wissen, dass ich, wann immer ich mich an Details seiner Geschichten erinnern möchte, einfach nur das Buch wieder aufschlagen muss. Es war das beste Geschenk, das er hätte hinterlassen können.
Meine Art, meine Geschichten zu erzählen, ist die Musik. Dieses Vinyl ist für mich zu meinem «Buch» geworden – zur Sammlung meiner Geschichten. Und wer weiß … vielleicht habe ich eines Tages die Gelegenheit, es meinen Enkelkindern zu überreichen.
- Das Album «Im Ausland zu Hause» erscheint am 17. Oktober 2025.
- Mehr Infos zu Michael Kraemer gibt es auf der Künstlerwebsite