Die letzten Überlebenden der Neunziger

Konzertkritik: Lamb in Zürich
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Das Programm vom Klub Plaza versprach eine Vorband und einen Konzertbeginn um halb acht. Aber eine Dreiviertelstunde später ist die Bühne zwischen zwei aufgemalten Paradiesvögeln noch immer ein verlassener Park aus Instrumenten. Noch weist nichts darauf hin, dass der folgende Gig ein einmaliges Erlebnis in der Stadtzürcher Konzertgeschichte werden soll. Im Hintergrund läuft Musik aus den mittleren Neunzigern. Goldie, Tricky und Massive Attack. Alles Acts, denen die Presse damals den Stempel «Trip Hop» verpasst hatte, nur um Lamb später vorzuwerfen, exakt diese zu imitieren.

 

Lamb selber verstanden ihren Sound eher als «Future Jazz». Man könnte auch von Konsensmusik auf höchstem Niveau sprechen. Keyboarder Andy Barlow packte gerade seine sieben Sachen in einem Manchester Tonstudio, als ihn ein Anruf von Sängerin Lou Rhodes ereilte. Sie wollte ein Duo gründen, und er war gerade für einen Mangel an «Kommerzialität» gefeuert worden. Er wollte wissen, ob sie gut aussehe. Sie befand, dass er das bei einem Treffen gefälligst selbst herausfinden solle.

 

Vier Studioalben würden die beiden während der folgenden sieben Jahre aufnehmen. Während Lou im Singer-Songwriting verwurzelt war, brillierte Andy mit technischer Finesse und verweigerte sich fast konsequent üblichen Songstrukturen. Sie waren wie Bruder und Schwester. Wie Hund und Katz. Nicht selten verliess eine/einer der beiden aus Protest ein Interview. Als sie 2003 eine Auszeit bekanntgaben, hatten sie zwar in Fankreisen längst Kultstatus erreicht, galten aber immer noch als Geheimtipp.

 

Wie treu ihnen diese Fans geblieben sind, zeigt das Durchschnittsalter im Publikum. Es grenzt an die Vierzig. Kurz vor halb neun betreten Lamb die Bühne, flankiert von einem Bassisten, einem Drummer und einer Violinistin. Eben noch lag der Geräuschpegel (ohne Hintergrundmusik) bei 75 Dezibel. Leider Normalität in der Stadt. Doch Lous Erscheinen lässt die übliche Wolke aus Geschwafel für den Rest des Konzerts magisch verblassen. Während der nächsten neunzig Minuten wird niemand aufs Handy schauen, und nicht eine Person wird ihren Platz wechseln. So fest haben Lamb ihr Publikum im Griff.

 

Lou trägt weiss und opulenten Haarschmuck. Ihre Stimme ist warm, kräftig und treffsicher. Noch am Vorabend hatte sie Geburtstag gefeiert, doch das glaubt ihr kein Mensch, denn ihre Strahlkraft ist nicht von dieser Welt. Dieser Mix aus elektronischen Spielereien, unwiderstehlicher Rhythmik und tief berührenden Balladen zieht alle in den Bann, verstärkt von einer simplen aber hocheffizienten Lichtshow. Lou kann kaum glauben, dass es Montagabend ist und wähnt sich stattdessen an der Grenze zum Wochenende.

 

Das Set umspannt ihre gesamte Karriere, fasst neuere Titel wie «We Fall In Love» oder «The Silence In Between» über «Gabriel» bis hin zum obligaten «Gorecki» und dem finalen Gewitter «Trans Fatty Acid». Es wird überdeutlich, wie weit sie damals ihrer Zeit voraus gewesen waren. Und heute, im Hitparaden-Mittelalter aus Autotune, inhaltslosen, lyrischen Endlosschleifen, stumpfen Dancehall-Beats, «Eo-Eo»-Skandierungen und halskranken Micky Mäusen, loten sie weiterhin souverän die Grenzen zwischen elektronischer und akustischer Musik aus. Sie beweisen, was möglich ist, treten Hintern, treffen Herzen und bewahren den Geist der Neunziger, der von Aufbruchsstimmung und Experimentierfreude geprägt war.

 

Lamb, die grosse Hoffnung von einst, sie macht weiterhin Hoffnung.

 

Mike Mateescu / Fr, 06. Dez 2019