Der Aufstieg eines Waisenjungen

Moviekritik: Great Expectations
Bildquelle: 
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Der Waisenjunge Pip (Toby Irvine) lebt bei seiner Schwester (Sally Hawkins, «Happy-Go-Lucky») und deren Ehemann Joe Gargery (Jason Flemyng, «The Curious Case of Benjamin Button») auf dem Land. Die Verhältnisse sind mehr als bescheiden und die Wut und die Strenge der Schwester bekommt nicht nur Pip, sondern auch Joe am eigenen Leib zu spüren. Trost und Zuflucht findet der kleine Junge nur am Grab seiner Eltern und Geschwister auf dem nahegelegenen Friedhof. Eines Tages begegnet er dort dem entflohenen Häftling Magwitch (Ralph Fiennes, «The English Patient») und hilft ihm. Da ahnt Pip noch nicht, dass diese Begegnung sein Schicksal auf unerwartete Weise beeinflussen wird. Ein Jahr darauf wird Pip als Spielkamerad für Estella (Helena Barlow), der Adoptivtochter der exzentrischen Miss Havisham (Helena Bonham Carter, «Sweeney Todd»), ausgewählt und verliebt sich prompt in die unnahbare, kühle Schönheit. Weil er davon überzeugt ist, dass Estella ihn aufgrund des Klassenunterschieds auf Abstand hält, nimmt er sich vor ein Gentleman zu werden, um sie zu erobern. Aber die Gelegenheit zum gesellschaftlichen Aufstieg lässt auf sich warten. Jahre später und völlig unerwartet vermacht ein unbekannter Gönner Pip (Jeremy Irving, «War Horse»), der nun zu einem jungen Mann herangewachsen ist, ein beachtliches Vermögen. Mit der Hoffnung, endlich die Zuneigung von Estella (Holliday Grainger, «The Borgias») zu gewinnen, macht er sich auf nach London, ohne zu wissen, dass er nur ein kleiner Teil einer sehr komplizierten Geschichte ist.

 

 

Bild 1: Der kleine Pip mit Miss Havisham. / Bild 2: Miss Havisham mit Schleier. (Mit Maus über Bild fahren)

 

«Great Expectations» ist die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Charles Dickens aus dem Jahr 1861. Der bereits mehrfach verfilmte Stoff wurde diesmal von Drehbuchautor David Nicholls («One Day») neu adaptiert und von Regisseur Mike Newell («Four Weddings And a Funeral», «Harry Potter & The Goblet of Fire») filmisch umgesetzt. Ausserdem konnten mit Ralph Fiennes und Helena Bonham Carter zwei grossartige Darsteller verpflichtet werden, die den beiden Schlüsselfiguren der Geschichte auf überzeugende Art und Weise Leben verleihen. Schade ist nur, dass Jeremy Irving als Pip – trotz seiner souveränen Schauspielleistung – nicht zu überzeugen vermag. Im Vergleich zu den teilweise arg überzeichneten Nebenfiguren, wie beispielsweise der Figur der Schwester, erscheint er zu blass und leidenschaftslos. Wenig hilfreich ist dabei die schwierige Beziehung zu Estella, die den ganzen Film über zu kühl und emotionslos erscheint und die Tatsache, dass sie unter ihrer Rolle als Racheinstrument der verbitterten Miss Havisham leidet, wirkt wenig glaubhaft. Ansonsten wartet der Film bis in die kleinsten Rollen mit einer hochkarätigen Besetzung auf, die sich wunderbar in die Schauplätze einfügt, die sehr gekonnt zwischen realistisch (London des späten 19. Jhs.) und märchenhaft-mysteriös (Miss Havishams grosses Haus, in dem die Zeit still steht) pendeln und somit die Kernatmosphäre der Originalgeschichte untermalen.

 

Karikierender Aspekt der Geschichte

 

Während der Film sich ziemlich genau an die Vorlage hält, werden die satirischen Elemente und Figuren, die bereits bei Dickens als versteckte Gesellschaftskritik vorhanden sind, im Film sehr stark hervorgehoben. Da wäre beispielsweise die überzeichnete Darstellung von Pips Schwester, die so böse ist, dass sie schon fast lächerlich wirkt, oder aber die Szenen im «Gentlemen’s Club» in dem sich die höher gestellten jungen Männer alles andere als ihrer Klasse entsprechend verhalten. Die Aussage, die dahintersteckt, wird dem Zuschauer zu deutlich präsentiert, wobei eine weniger karikierende Herangehensweise ausgereicht hätte, um die Aussage der Geschichte den Zuschauern näherzubringen. Dickens’ Hauptfiguren sind facettenreich und lassen sich nicht einfach in Gut und Böse unterteilen. Das versucht auch der Film zu vermitteln. Die Beweggründe einzelner Figuren werden zumindest angedeutet, was ihr Verhalten immerhin etwas klarer erscheinen lässt.

 

Bild 1: Joe Gargery und der erwachsene Pip. / Bild 2: Joe Gargery berät den jungen Pip. 

 

Alles in allem ist «Great Expectations» ein handwerklich solider Film mit stimmungsvollen Aufnahmen und Schauplätzen, die die Handlung passend untermalen. Ausserdem wird die relativ verschachtelte und komplexe Geschichte durch Rückblenden und Erzählungen von Zeugen der Ereignisse puzzelartig zusammengesetzt, was eine gewisse Spannung erzeugt, auch wenn man die Geschichte bereits kennt.

 

  • Great Expectations (GB 2012)
  • Regie: Mike Newell
  • Drebuch: David Nicholls nach Charles Dickens
  • Darsteller: Helena Bonham Carter, Ralph Fiennes, Jeremy Irvine, Sally Hawkins, Robbie Coltrane
  • Laufzeit: 128 Minuten
  • Kinostart: 27. Dezember 2012

 

Sule Durmazkeser / Di, 25. Dez 2012