Die Leiden der jungen Maisie
Mehr als ein Drittel der Ehepaare in der Schweiz landen irgendwann mal vor dem Scheidungsgericht. Im Idealfall ist das Paar kinderlos. Was passiert, wenn doch Nachwuchs zwischen die Fronten gerät, zeigt der neue Film von Scott McGehee und David Siegel. Die sechsjährige Maisie (diesen Namen darf man sich merken: Onata Aprile) verliert mit der Scheidung ihrer Eltern nicht nur ihre Familie und ihr Zuhause, sondern ihren kostbarsten Besitz: ihre Kindheit. Trotz dieses sensiblen Themas rutscht der Film nicht in sentimentales 08/15-Kino mit altbewährtem Rezept, sondern zeigt die gescheiterten Ehepartner als streitsüchtige Egomanen, über deren Unglück gerne und viel gelacht werden darf. Und hier gelingt den Filmemachern ein beachtlicher Balanceakt: Egal wie lächerlich, berechenbar und trivial die Eskapaden von Maisies Eltern erscheinen, sie hinterlassen sichtbar Spuren in Maisies Gefühlswelt. Die kleine Heldin glänzt wiederum mit einer derart grossen Portion Geduld und Nächstenliebe, wie sie meistens nur ältere Menschen besitzen. In einigen Momenten erscheint es gar so, als verspüre Maisie Mitleid mit ihren verantwortungslosen Erzeugern.
Zuckerüberschuss mit Mama (Bild 1), Snobismus mit Papa (Bild 2): die kleine Maisie mittendrin. (Mit Maus über Bild fahren)
Die komplett aus Maisies Perspektive erzählte Geschichte deckt die Doppelmoral der Erwachsenen schonungslos auf. Julianne Moore («The Big Lebowski», «The Kids are all right») und Steve Coogan («Coffee & Cigarettes», «The Look of Love» – Link zu Kritik) spielen Maisies Eltern und wirken dabei bedrohlich psychotisch und banal zugleich. Nicht zuletzt, weil sie sich gegenseitig mit deutlich jüngeren Partnern eifersüchtig zu machen versuchen. Die neuen Gespielen der rachesüchtigen Rockerin und des re-etablierten Kunsthändlers, wurden nicht durch langes Auswahlverfahren bestimmt: der Papi schnappt sich Nanny Margo (Joanna Vanderham) während Mutti den Barkeeper Lincoln (Alexander Skarsgard, «True Blood», «The East») aufreisst. Weil labile Beziehungen keinen Vorteil bei Sorgerechtsstreitigkeiten bringen, wird auch dementsprechend schnell der Altar respektive das Standesamt besucht. Entgegen der häufig thematisierten Schwierigkeiten, die sich durch die neuen jüngeren kinderlosen Partner ergeben, erhält Maisies Welt mit Margo und Lincoln zum ersten Mal seit langem Stabilität. Im Gegensatz zu ihren Eltern zeigen die Beiden echtes Interesse an Maisie. Und obwohl sie deutlich weniger etabliert und erfolgreich als die selbstsüchtigen Eltern durchs Leben schreiten, verfügen sie durch ihr Einfühlungsvermögen und ihr Verantwortungsbewusstsein über jene Qualitäten, die Maisies Alltag erträglich machen. Dies wird insbesondere an Maisies gesunder Ernährung in Gesellschaft von Margo und Lincoln veranschaulicht.
An Lincoln findet nicht nur Maisie (Bild 1) Gefallen, sondern auch bald schon Nanny Margo (Bild 2).
Dieses moderne Märchen über die Irren und Wirren einer Patchwork-Familie basiert – so überraschend es klingen mag – auf einer über 100 Jahre alten gleichnamigen Erzählung von Henry James («The Portrait of a Lady»). Zum Schluss nehmen sich die Filmemacher zwar deutlich grossen Interpretationsraum, indem sie die Geschichte an einem früheren Moment zu Ende erzählen und somit das Publikum mit einer grossen Portion zufriedener Ungewissheit zurücklassen, wie es nur wenigen Regisseuren glückt. Eine mutige und schön inszenierte Adaption, gemacht für eine Welt mit hohen Scheidungsraten.
- What Maisie knew (2012)
- Regie: Scott McGehee und David Siegel
- Roman: Henry James
- Drehbuch: Nancy Doyne, Carroll Cartwright
- Besetzung: Julianne Moore, Steve Coogan, Joanna Vanderham, Alexander Skarsgard, Onata Aprile
- Dauer: 99 Minuten
- Ab 12. September im Kino