Bitte? Atomenergie?

ZFF 22-Moviekritik: Nuclear
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© New Element Media, Ixtlan

Man liebt ihn oder man hasst ihn. Für manche ist US-Regisseur Oliver Stone Vordenker und Aufdecker, für andere bloss ein pathologischer Störenfried. Ob er nun die Geschichte von The Doors aufrollt, das Kennedy-Attentat mit einem Berg aus Dokumenten in Frage stellt oder Putin in einer Doku-Serie mit harten Fragen löchert; irgendwer wittert immer Verrat. Im Fall der Rockband übrigens zurecht. Mindestens die Hälfte jenes Films ist reine Fantasie. Keyboarder Ray Manzarek hätte ihm dafür nur zu gerne eine reingehauen.

 

Für seine neueste Dokumentation «Nuclear» scheint er die Hausaufgaben aber einmal mehr gemacht zu haben. Der Film leidet zwar an leichter Überlänge, legt aber ein sorgfältig vorbereitetes Plädoyer zugunsten der Kernenergie vor. Geht es nach Stone, müssen wir unseren Planeten mit – hoffentlich stark optimierten – Reaktoren übersäen. Gerade in Indien, China oder Afrika. Weil Meiler CO2-neutral und damit klimafreundlich sind. Da denkt man natürlich schnell an eine verstrahlte Nachbarschaft im Falle eines Unfalls. Und die wäre dann halt weit unpässlicher als Ölteppiche im Südpazifik oder verpestete Böden in einem weit entfernten Entwicklungsland.

 

So scheint das Hauptproblem darin zu bestehen, die Leute überhaupt für das Thema zu interessieren. Wie Stone korrekt darlegt, haben die meisten Menschen Kernenergie und Kernwaffen im Kopf direkt verlinkt. Nicht wenige glauben, Reaktoren könnten wie Bomben detonieren, was allerdings absurd ist, da deren Heizstäbe mit zu wenig Uran angereichert sind. Tatsächlich seien Reaktoren so sicher, dass ihr Betrieb an Langeweile grenze. So geht die Furcht vor Atomenergie – man muss es aussprechen – zu einem nicht geringen Teil auf geschickte Pressearbeit der Erdölindustrie zurück.

 

Die Kernfurcht

 

Dennoch sind es vor allem zwei Vorkommnisse der Menschheitsgeschichte, die Reaktoren in Verruf gebracht haben. Tschernobyl und Fukushima. Dazu sei angemerkt, dass Tschernobyl nur deswegen geschehen konnte, weil die Anlage schlecht ummantelt war und man sie einem Stresstest aussetzte, der von oberster Stelle nicht autorisiert wurde. Dass die HBO-Serie behauptete, man habe nach dem eigentlichen Unfall eine Detonation kontinentalen Ausmasses verhindern können, ist ein weiteres Beispiel für panikschürenden Humbug. Diese Gefahr bestand zu keiner Zeit.  

 

Der Unfall in Japan wiederum ist denkbar schlechter Architektur und höchst delikater Platzierung zu verdanken. Anders als die Russen schickten die Japaner ihre Männer mit adäquaten Schutzanzügen in den Krisenherd. Es heisst, kein einziger Mensch sei durch Strahlungsschädigung verstorben. Der Tsunami jedoch schickte fast zwanzigtausend Menschen in den Tod, und ging wohl ein Stück weit aufs Konto des Klimawandels.

 

Aber gut. Ich weiss, wie das jetzt klingt. Es ist schwierig, diesem Film Positives zuzugestehen, ohne als Fanboy der Atomlobby verschrien zu werden. Die ARD schimpft «Nuclear» einen zweistündigen Werbefilm für eben jene Industrie. Fast schon amüsant. Genau dies ist ja die Absicht des Regisseurs. Immerhin sieht er in der Erdölindustrie den eigentlichen Schurken hinter der Erderwärmung.

 

Her mit der Kohle!

 

Glaubwürdig zeigt er auf, wie diese Konzerne nicht nur Umweltaktivisten für Geld gegen Kernkraftwerke aufwiegelten, sondern auch, wie sie von erneuerbaren Energien wie Wind oder Solarstrom profitierten. So laut es auch geschrien wird; Letztere werden stets nur eine unterstützende Kraft sein, für deren Unzulänglichkeiten Gas und Erdöl nur zu gerne in die Bresche springen. Kein Wunder ist man sich gegenseitig grün.

 

Dabei braucht man nach den Schattenseiten des Erdöls nicht lange fahnden. Man nehme Shell. Das Unternehmen hat ganz Nigeria in seiner Gewalt und es über die Jahrzehnte heillos verseucht. Oder BPs Glanzstück, die Verantwortung durch Erfindung des CO2-Fussabdrucks dreist an die Verbraucher abzuwälzen. Ja. Verzicht scheint unausweichlich, doch gestaltet er sich zunehmend schwierig in einer Welt, wo Firmen jedes Quartal mehr Geld erwirtschaften müssen, damit Anleger nicht abspringen, und deswegen gezwungen sind, immer grössere Mengen an Produkten herzustellen, respektive Rohstoffe und Energie zu verbrauchen. Oftmals Erzeugnisse, die bewusst eine limitierte Lebensdauer besitzen.

 

Die eigentlichen Fragen

 

Ich will hier aber nicht unbedingt die Gas- und Erdöl-Industrie dämonisieren. Das kann sie selbst am besten. Ich möchte lieber den Fragen nachgehen, die der Film direkt und indirekt aufwirft.   

Inwiefern sind die Betreiber von Meilern und die Erbauer von Kernwaffen eigentlich miteinander verbandelt? Ist das Problem der Endlagerung wirklich so delikat und unlösbar oder spielt Stone es nur geschickt herunter? Wie erfolgsversprechend sind die Forschungen an neuen Reaktor-Typen, und kann diesen tatsächlich synthetisches Benzin entspringen?  

 

Eine solche Diskussion könnte uns voranbringen, aber leider werden wir sie so bald nicht führen. Vorher konvertiert man einen Flach- zu einem Hohl-Erdler. Lieber predigen wir Duschen zu zweit oder Schwimmen nach Hawaii, und träumen von der absolut karmabefreiten und gefahrenlosen Energiequelle. Vielleicht aber existiert diese gar nicht. Vielleicht ist Energiegewinnung immer an ein gewisses Risiko gekoppelt. Wie das Leben selbst, das ohne Energie undenkbar ist. Aber Umdenken fällt schwer, braucht Zeit. Zeit, die immer weniger wird. Inzwischen regieren die Herren der Fossilen Brennstoffe uneingeschränkt weiter. Verseuchen die Luft, die Erde und die Meere. Solange, bis das schwarze Gold knapp wird. Und dann klingeln die Kassen erst recht.

  

Der mit Abstand wichtigste und relevanteste Film des diesjährigen ZFF, für den die Welt noch nicht bereit ist, dessen Blüte jedoch garantiert zu sein scheint. Auch wenn es noch zwanzig Jahre dauern mag.  

 

  • «Nuclear» / USA 2022
  • Regie: Oliver Stone
  • Laufzeit: 105 Minuten
  • Kinostart: noch nicht bekannt

 

Mike Mateescu / Di, 11. Okt 2022