Calcutta authentisch im Komplex

Konzertkritik: Calcutta in Zürich
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Promobild / © Simone Biavati

«Der steigt da auf die Komplexbühne und das letzte Mal geduscht hat er wahrscheinlich am 10. November.» Das meint ein Calcutta Fan, im Publikum als der Musiker die Bühne betritt.


Es mag an seinem roten, verwaschenen Cap liegen oder an seinen schwarz, leicht glänzenden Haaren, die wild über sein Gesicht fallen. Sein gesamtes Erscheinungsbild weist darauf hin, dass der Indie-Musiker nicht viel Wert auf Äusseres legt.

 

Viel Wert auf eine gute Atmosphäre legen aber seine Fans im Publikum. Denn im Komplex 457 spricht jeder mit jedem, es werden neue Freundschaften geschlossen, es wird über Calcuttas Texte philosophiert und über die Herkunft gesprochen. Die meisten Fans leben erst seit kurzem in der Schweiz, andere sind von Norditalien extra für das Konzert hergekommen. Wo bleiben die Schweizer? Die Secondos?

 

Sehr abstrakt, manchmal etwas pervers und sehr unzensiert

 

Calcutta hat sich Jahrelang im Underground der italienischen Musikszene bewegt, erst seit zwei Jahren hört man einige seiner Lieder auf Radiostationen. Ausserdem sind Calcuttas Texte sehr abstrakt, manchmal etwas pervers und sehr unzensiert. Er selber ist sehr unkompliziert, unspektakulär und gibt sich auf Social-Media sehr alternativ und authentisch. Dies mögen Gründe sein, warum man ihn in der Schweiz noch nicht kennt. Trotzdem waren über 600 Gäste im Komplex 457 anzutreffen.

 

Mit «Briciole» eröffnet Calcutta den Gig, ein sanftes Liebeslied mit einer Pianoeinlage. Über die Hälfte des Publikums singt mit, andere Schwenken mit dem Rhythmus. Beim Song «Kiwi» verwandelt sich die Bühne in ein grünes Spektakel. Alle Scheinwerfer leuchten grün, es wird gesprungen, gesungen. Im Refrain geht es darum, dass sich die Welt um seinen eigenen Scheiss kümmern soll. Diesen Part schreien alle lauthals aus der Seele. Und so verwandelt sich das Komplex 457 in einen einzigen Chor.
«Kiwi» ist aber nicht der einzige Song, den das Publikum gesanglich begleitet.

 

«Orgasmo», «Milano», «Cosa mi manchi a fare», «Limonata», «Dal verde», «Pesto» und vor allem «Paracetamolo» und «Frosinone». Im Song «Paracetamolo» vergleicht der Indie-Sänger Schmerzmittel mit der Liebe. Jeden Song performt der aus Latina stammende Sänger sehr cool, locker und ohne Mimik. Ob er auch ein «Paracetamolo» eingeworfen hat vor dem Konzert? Er ist nicht nur sehr locker und cool, er ist auch echt.

 

Vor einigen Songs fragt er die Band und den Techniker, welchen Song sie schon wieder spielen werden. Sehr nüchtern antwortet er darauf: «Ah ja, genau, «Pesto», stimmt.» Gemütlich spaziert der gebürtige Edoardo D’Erme auf der Bühne hin und her. Mit seiner schwarzen, etwas grossen Regenjacke sieht er aus als würde er ganz alleine einen Spaziergang durch den Regen machen und nebenbei sehr tiefgründige und abstrakte Texte vor sich hinträllern. «Ich esse das Dunkle mit Pesto, ich mag es nicht aber ich schlucke es trotzdem», singt er in «Pesto».

 

Zwei völlig verschiedene Welten

 

In seiner Nüchternheit und Gemütlichkeit bedankt sich der Dreissigjährige mehrfach, während des ganzen Konzertes beim Publikum. Ganz einfach mit einem einzigen Wort «Grazie». Jeder kauft es ihm zu hundert Prozent ab und feiert diese Leichtigkeit.
Der Abschied ist kurz, aber ganz ok: «Danke, danke an alle die gekommen sind und auch danke denen die nicht gekommen sind.»

 

«Womöglich hat Calcutta noch nie geschwitzt, vielleicht ist dies der Grund, dass er dreimal im Jahr duscht?», meint ein Calcutta-Fan, im Publikum als der Musiker die Bühne verlässt.

 

Zwei völlig verschiedene Welten sind aufeinandergetroffen. Ein extrem lautes, wildes und emotionales Publikum hat für eine grandiose Stimmung gesorgt. Ein sehr zurückhaltender und ruhiger Sänger hat die Bühne verzaubert. Calcutta war sehr gemütlich aber genau deshalb wird er von so vielen geliebt. Er ist authentisch, anders aber trotzdem sich selbst.

 

Wer die andere Seite der italienischen Musikszene kennenlernen will, sollte unbedingt bei Calcutta beginnen.

 

Valeria Piediscalzi / Fr, 22. Nov 2019