Phoenix aus der Säure

Moviekritik: Joker
Bildquelle: 
© 2019 Warner Bros. Ent. All Rights Reserved. TM &

Als Warner Brothers diesen Film ankündigten, dürften sich die meisten Leute zwei Dinge gedacht haben. Braucht es nach Jared Letos übersteigerter Performance im Flickwerk «Suicide Squad» wirklich schon wieder eine Neuauflage des legendären DC-Bösewichts? Und kann Joaquin Phoenix bei der Wahl einer Rolle denn überhaupt falschliegen? Doch je näher die Premiere rückte, desto mehr verlagerte sich die Diskussion eine weit toxischere Richtung. Geht von diesem Film gar eine Gefahr aus? Amerikanische Medien behaupteten monatelang, «Joker» würde labile Persönlichkeiten zu Amokläufen verleiten. Dabei beriefen sie sich auf die Schiesserei während einer Vorführung von «The Dark Knight» in Colorado.

 

Schreckgespenst Fake News

 

Dummerweise sollte sich herausstellen, dass der Schütze die Tat bereits seit zehn Jahren geplant hatte, und die Wahl des Films reiner Zufall war. Dennoch fühlten sich das US Militär und weite Kreise der Polizei dazu genötigt, vor Attentaten bei Kinovorführungen des Streifens zu warnen. Das Drama ging so weit, dass Warner Brothers denselben Medien, die ihren Film unverdient zu einer Bedrohung stilisiert hatten, die Teilnahme an der Premiere verweigerte. Dabei ist die wahre Sprengkraft des Filmes im verhandelten Thema zu finden; der Angst vor dem Zusammenbruch der Gesellschaft.

 

(© 2019 Warner Bros. Ent. All Rights Reserved TM & © DC Comics)

 

Im Kern dreht sich die Geschichte um die Radikalisierung eines Mannes, der entgegen aller Bestrebungen von der Gesellschaft zurückgewiesen wird. Wurde der Joker in Tim Burtons «Batman» noch durch den Sturz in ein Säurefass geboren, so wird dieses 2019 von der Gesellschaft selbst verkörpert. Nach und nach begreift der traumatisierte Clown Arthur Fleck, dass er sein ganzes Leben missbraucht und belogen wurde. Um diese Dissonanz zu vermitteln, greift Regisseur Todd Phillips zu zwei Mitteln. Einerseits spielt er mit der Panik vor einer Wirtschaftskrise, wie sie uns derzeit im echten Leben blüht. Andererseits hat er eine Welt kreiert, die sich zeitlich schwer einordnen lässt. Glauben wir uns zunächst in einer dystopischen, kaputtgesparten Zukunft wiederzufinden, pendelt sich die Handlung allmählich in den frühen Achtzigern ein. Und als Thomas Wayne – Vater von Batman – die Kinovorführung eines Stummfilms besucht, ist die Desorientierung perfekt.

 

Ein Rachefeldzug, keine sadistische Gewaltorgie

 

Man sagt, jeder Mensch habe 1000 Gründe, zum Verbrecher zu werden – aber kein einziges Recht. Doch manchmal wird der Druck zu gross, weswegen sich Fleck schliesslich gegen ein System wendet, in welchem er nicht länger funktionieren kann. Rechnet man dies hoch, hat man eine anhaltende Revolte, wie etwa jene gelbe in Paris. Es dürfte genau dieser subversive Wink in Richtung Umbruch sein, der «Joker» ein R-Rating eingebracht hat, denn an der gezeigten Gewalt kann es nicht liegen. Setzt sich Fleck zu Beginn lediglich zur Wehr, so wechselt er später zu gezielter Vergeltung gegen seine grössten Unterdrücker. Ohne Ambitionen, ohne übermäßiges Blutvergießen und selbstverständlich ohne etwaige Konsequenzen im Blick zu haben.

 

Doch nicht nur für Fleck ist es ein Befreiungsschlag. Bei Phillips, der jahrelang Komödien nach Schema F abliefern musste, dürfte sich eine gewaltige kreative Frustration angestaut haben, die er mit «Joker» nun endlich entfesselt. Jede einzelne Einstellung ist ein optischer Hochgenuss, und es wäre nicht vermessen, diesen Film auf eine Stufe mit «The Dark Knight» zu stellen. Phoenix spielt auf Augenhöhe mit Heath Ledger, auch wenn seine Herangehensweise ein völlig andere ist. Über beide Filme werden wir noch in dreissig Jahren sprechen – und im Fall von «Joker» garantiert aus einem anderen Blickwinkel.

 

Joker ist die nachvollziehbare, taktvolle Anatomie eines sozialen Abstiegs mit all seinen Konsequenzen. Ein Meisterwerk, dessen Oscar-Prämierungen nur die dümmliche Hysterie vor dem Kinostart im Wege stehen dürfte.

 

  • Joker (USA 2019)
  • Regie: Todd Phillips
  • Darsteller: Joaquin Phoenix, Robert De Niro, Zazie Beetz, Brett Cullen u.a.
  • Laufzeit: 121 Minuten
  • Kinostart: 10. Oktober 2019

 

Mike Mateescu / Mo, 07. Okt 2019