Menschliche Wärme im eisigen China

Movie-Kritik: The Breaking Ice
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©trigon-film.org

Die Kamera fliegt über eine karge, verschneite Landschaft im Nordosten Chinas, folgt dem halbgefrorenen Lauf eines Flusses, harrt bei einer Gruppe Männer aus und beobachtete sie beim Lösen von Eisschollen aus dem Fluss. Auf der Strasse etwas stromabwärts fährt ein Reisebus vorbei. Drin hält die Reiseleitern Nana eine Gruppe Touristen bei Laune. Sie erzählt dies und jenes, Anekdoten und Witze, bis ihre Füsse schmerzen. Gleichzeitig ist der aufstrebende Finanzprofi Haofeng in einem nahen Hotel auf der Hochzeit eines Schulkameraden eingeladen. Während ausgiebig gefeiert wird, scheint Haofeng, der extra aus Shanghai angereist ist, traurig und wirkt etwas abwesend. Als ihn ein Anruf erreicht, verlässt er den Saal, um diesen anzunehmen. Den Anruf des psychiatrischen Dienstes blockt er zwar rasch ab - «falsch verbunden» -, gleichzeitig beobachtet er interessiert den ankommenden Reisebus von Nana.

 

Dezente Euphorie, herzliche Freundschaft und Bücher, die man eh nicht liest

 

Die junge Frau fällt Haofeng sofort auf. Er entschliesst sich, am Tag darauf einen Ausflug zu buchen. Zwar spielt die Hoffnung mit, Nana näher zu kommen, dass es aber so gut funktioniert und die attraktive Frau ihn gleich zum Abendessen mit ihrem Freund Han Xiao einlädt, hat er nicht erwartet. Der Abend endet feucht-fröhlich und so übernachtet Haofeng bei den neuen Freunden. Als er am Tag danach zum Flughafen will, bitten ihn Nana und Han Xiao, noch etwas zu bleiben. So beginnt eine aufregende Zeit von dezenter Euphorie, intimer Zweisamkeit und herzlicher Freundschaft. Das Trio geniesst das Leben, lässt sich im Augenblick treiben und schaut, was passiert. Man isst gemeinsam, klaut aus Blödsinn Bücher, die man eh nicht liest und reist an die Grenze zu Nordkorea und in die verschneiten Berge.

 

Wer hat nicht schon in den Ferien Menschen getroffen, mit ihnen eine unbekümmerte Zeit erlebt und sie danach nie wieder gesehen. Im Grunde ist das der Gedanke des chinesischen Films «The Breaking Ice - Ein Winter in Yanji». Nur lässt Regisseur Anthony Chen sich nicht auf einen launigen Ferienflirt festlegen, sondern lässt gut spürbar dunkle Schatten mitschwingen. Li Haofeng plagt sich mit Selbstmordgedanken. Nana dagegen hadert mit einer Verletzung, die ihre Karriere als Eiskunstläuferin brutal beendete. Han Xiao ist offensichtlich in Nana verliebt, läuft aber ins Leere. Das wird besonders durch den traurigen Blick deutlich, als er herausfindet, dass Nana und Li Hoafeng miteinander schlafen.

 

Der Anfang einer intensiven Zeit. (Filmstil, ©trigon-film.org)

 

Die Idee zum durchaus lebensfrohen und rationalen Film ist Regisseur Anthony Chen durch die Coronapandemie gekommen. Nachdem er lange eingesperrt war und einige Projekte stockten, wollte er etwas Neues anfangen, um das Gefühl, die Identifikation als Filmemacher wiederzufinden. Also zwang er sich, sämtliche Konventionen über Bord zu werfen und einen Film in einem ihm unbekannten Teil des Landes zu drehen, in neuem Terrain und neuem Klima. Andererseits wollte Chen den Geist der jungen Generation in China, über die er so viel gelesen habe, einfangen, wie der Filmemacher selbst sagt. «Wir alle glaubten daran und schenkten dem Projekt unser Vertrauen. Es war ein wildes Abenteuer in einem kalten, eisigen Winter. Und für mich ein Liebesbrief an die jungen Menschen in China», sagt Chen in einem Statement.

 

Regisseur Anthony Chen macht einen pragmatischen und eleganten Job

 

Diesen Gedanken atmet der Film tatsächlich sehr intensiv. Diese Verbundenheit zwischen Menschen, die sich kurz davor noch fremd waren. Dieses flüchtige Geniessen von zwischenmenschlicher Wärme in der kühlen chinesischen Alltäglichkeit. Dieses zulassen von Nähe ohne Angst vor Konsequenzen, aber auch der klare Eskapismus, der Flucht vor dem eigenen Dasein. Dem Regisseur gelingt es mit diesen Ansätzen auf geschickte Weise, eine menschliche Geschichte zu erzählen, ohne zu sentimental zu werden, in dem er die Bilder sprechen lässt und die drei jungen Menschen ohne Ziele durch einen herzlichen Film torkeln, leben und lieben lässt. Punktuell erinnert das an Genreklassiker wie «Jules & Jim», ohne seine Individualität zu verleugnen. Vermutlich hatte der Regisseur gar keine Vorbilder im Kopf, sondern zeigte seinen ureigenen Entwurf eines zufälligen Treffens und den durchaus positiven Einflüssen auf die drei Leben. Das ist dann trotz der bewusst kühlen und kargen Inszenierung durchaus mit einem Hauch Romantik bestäubt, vermeidet aber, dem Film eine moralische Inschrift ins Denkmal zu meisseln. Hier macht Anthony Chen einen pragmatischen und gerade deswegen eleganten Job und liefert einen wunderschönen Film, der mit seiner schlichten, aber lebensbejahenden Seele berührt.

 

Wobei, auf Tiefe verzichtet der Film keineswegs. So geht das Trio irgendwann wieder seiner Wege und es bleibt die romantische Erinnerung an einen leidenschaftlichen, tiefmenschlichen Winter in Yanji und die Erkenntnis, dass das Leben mehr beinhalten kann, als es aus der eigenen Perspektive scheint. Unter diesem Aspekt könnte der Film durchaus als Parabel zur Post-Covid-Gesellschaft verstanden werden, in der langsam wieder der Optimismus durchdringt.

 

«The Breaking Ice» ist menschlich und auf eskapistische Weise sehnsüchtig. Regisseur Chen hat sein Sozialmärchen authentisch und berührend inszeniert.

 

  • The Breaking Ice (China / 2023)
  • Regie: Anthony Chen
  • Drehbuch: Anthony Chen
  • Besetzung: Zhou Dongyu, Liu Haoran, Qu Chuxiao
  • Laufzeit: 97 Minuten
  • Kinostart: 8. Februar 2024

 

Bäckstage Redaktion / Mi, 07. Feb 2024