Ecken und Kanten gehören dazu

Filmkritik: Your Sister‘s Sister
Bildquelle: 
Rialto

Die Tage werden kürzer, der Sommer ist bald vorbei und die Superhelden verlassen allmählich die Kinos. Zeit also, dass neue Werke die Säle füllen. Mit «Your Sister’s Sister» kommt eine Geschichte ins Kino, die den Übergang in die kühleren Zeiten versüsst. Im Vergleich zu den grossen Blockbustern hat dieser kleine Film eine entscheidende Komponente, die auch mit viel Geld nicht zu kaufen ist: eine Seele. Regisseurin und Drehbuchautorin Lynn Shelton («Humpday») schafft es auf eindrückliche Weise ihre Protagonisten als Menschen darzustellen. Dies klingt im ersten Augenblick nicht nach viel, ist schlussendlich aber alles, was einen guten Film ausmacht. Dies zeigt sich bereits in den ersten paar Minuten der Handlung. Freunde haben sich versammelt, um Tom zu gedenken, der vor einem Jahr verstorben ist. Nach einer wunderbaren Rede meldet sich plötzlich Toms Bruder Jack (Mark Duplass «Humpday») zu Wort. Was er über Tom zu erzählen hat, will niemand hören, denn die Worte sagen mehr über Jacks Schmerz aus, als über Toms Leben. Aus Mitleid und Besorgnis schlägt Iris (Emily Blunt, «Salmon Fishing in the Yemen»), Toms Exfreundin, Jack vor, sich ein paar Tage im Ferienhaus ihrer Eltern zu verkriechen.

 

 

 

In diesen ersten 15 Minuten erleben wir mehr Menschlichkeit, als bei anderen  Filmen während der gesamten Spielzeit. Es ist klar, dass Jacks und Iris‘ Beziehung zueinander wesentlich komplizierter und verzwickter ist, als es die beiden je zugeben würden. Und auf eine komische Art und Weise hat Mark Duplass uns bereits hier auf seine Seite gezogen. Er ist kein schöner Jüngling, der ein wenig von der Bahn abgekommen ist. Jack hat ein paar Pfunde zu viel, trägt eine lächerliche Justin-Bieber Frisur und sollte ein paar Stunden Schlaf dringend nachholen. Seine ganze Ausstrahlung ist jedoch dermassen sympathisch, dass wir ihm alles verzeihen können. Sogar die Tatsache, dass er am ersten Abend in der abgelegenen Hütte mit Iris‘ lesbischer Schwester Hannah (Rosemarie DeWitt «Rachels Wedding») schläft. Ein durch zu viel Tequila verursachter Fehler, dessen Tragweite mit dem plötzlichen Auftauchen von Iris an Bedeutung gewinnt.

 

 

 

Die Verstrickungen in «Your Sister’s Sisters» erinnern an ein gutes Oscar-Wilde-Bühnenstück. Nichts ist wie es auf den ersten Blick scheint. Alle drei haben geheime Motive, einige davon werden mit dem Verlauf der Handlung schnell klar, andere bleiben bis zum Schluss verborgen. Sogar für die Darsteller. In guter alter «Casablanca»-Manier, wussten zwei der drei Schauspieler bis zur finalen Szene nicht wie die Geschichte zu Ende geht. Ein mutiger Schritt, für den sich Filmemacherin Shelton entschied, nachdem sie den grössten Teil der Dreharbeiten auf die Improvisationskünste ihrer Akteure setzte. Wie sich herausstellt, die richtige Entscheidung. Der Humor kommt locker und ungekünstelt daher, weil er genau dort entsteht, wo er nicht beabsichtigt wurde. Wenn Emily Blunt in einer Szene sprachlos und entsetzt Rosemarie DeWitt anstarrt, dann nur deshalb, weil Blunt selbst nicht wusste welche peinliche Geschichte DeWitt über sie erzählen wird. Genauso wie im richtigen Leben. Dieser Satz geht einen alle 5 Minuten durch den Kopf. Nicht nur bezogen auf die Interaktionen zwischen den drei verlorenen Seelen, sondern auch während den wunderschönen Landschaftsaufnahmen. Diese wurden aus realistischen Perspektiven aufgenommen. Keine Krankameras, keine Flugperspektive, sondern beeindruckende Bilder, 180 Zentimeter über dem Boden. Sie zeigen, dass Ecken und Kanten dazugehören, ob in der unberührten Natur oder bei uns Menschen.

 

  • Your Sister’s Sister (USA 2011)
  • Regie & Drehbuch: Lynn Shelton
  • Besetzung: Emily Blunt, Mark Duplass, Rosemarie DeWitt
  • Dauer: 90 Minuten
  • Filmstart: 13. September 2012

 

Tanja Lipak / Do, 13. Sep 2012