Bestattungszeremonie in einer Todesfabrik

Movie-Kritik: Son of Saul
Bildquelle: 
Filmcoopi

Irgendwo in einem Waldstück: das trübe Licht eines wolkenverhangenen Tages legt einen grauen Schleier über alles. Die Stille wird durchbrochen von Vogelgezwitscher. Das unscharfe Bild lässt die Umgebung verschwimmen und erzeugt ein beklemmendes Gefühl. Kurze Zeit später wird diese unheimliche Idylle durch einen Pfiff zunichte gemacht. Stimmengewirr und Schritte füllen den Raum, während der Protagonist Saul Ausländer (Géza Röhrig) ins Bild tritt. 

 

So ungewöhnlich wie die Eröffnungsszene des Films ist, so gewöhnungsbedürftig geht es auch weiter. Nachdem die Kamera Saul einmal eingefangen hat, lässt sie ihn nicht mehr los. Sie wird zu seinem ständigen Begleiter. Mal dicht hinter ihm, mal frontal, hebt sie die Distanz zwischen ihm und den Zuschauern auf. Immer wieder erfasst sie in Halbnah- und Nahaufnahmen Sauls verhärmtes, regungsloses Gesicht, das bei oder gerade trotz aller Grausamkeit keine Emotionen preisgibt, oder nicht mehr preisgeben kann. Saul gehört zum sogenannten Sonderkommando des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau. Dieses Sonderkommando besteht aus jüdischen Häftlingen, die dazu gezwungen sind, den Nazis bei der Ermordung der deportierten Juden zu helfen. 

 

 

Im Angesicht des Grauens funktioniert Saul praktisch wie eine Maschine. Unbeirrt und Emotionslos führt er die notwendigen Arbeitsschritte aus – vom Lotsen der Häftlinge in die vermeintlichen «Duschen» über das Abtransportieren der Leichen bis hin zur Reinigung der Gaskammer. Das funktioniert solange, bis er eines Tages in der Leiche eines kleinen Jungen seinen Sohn zu erkennen glaubt. Der Wunsch nach einem würdevollen Abschied für sein Kind, weckt ihn aus seiner Apathie. Trotz Todesgefahr, beginnt er alles nötige für eine Bestattung nach jüdischem Brauch zusammenzutragen und dringt dabei bis ins Innere einer Gruppierung des Sonderkommandos vor, die gerade dabei sind einen Aufstand zu planen.

 

Beklemmende Atmosphäre durch Vorwissen 

 

«Son of Saul» ist ein beklemmender Film, der allein schon durch seine Einbettung in die Holocaust-Thematik grosses Unbehagen auslöst. Allerdings verzichtet Regisseur László Nemes in seinem ersten abendfüllenden Spielfilm darauf, das Thema zu sentimentalisieren und entscheidet sich, das KZ – so schrecklich und unfassbar es auch immer noch ist – als das zu zeigen, was es letztendlich war: eine Tötungsfabrik mit genauer Arbeitsteilung und präzisen Arbeitsabläufen, die am laufenden Band Leichen produzierte. Den Zuschauern werden keine Schreckensbilder von ausgemergelten Leichen, Foltermethoden oder systematischen Hinrichtungen im Detail gezeigt. Allerdings entwickelt der Film gerade dadurch eine grosse Kraft, dass er auf schockierende Bilder verzichtet und das unfassbare Grauen Mittels verwackelter Aufnahmen und unscharfen Bildern zu einem allgegenwärtigen Horror ausbreiten lässt. Das Vorwissen der Zuschauer reicht in diesem Fall aus, die beklemmende Atmosphäre aufkeimen zu lassen. 

 

 

Vor diesem Hintergrund steht Saul, dessen ausdruckslose Miene, sein Schweigen und die Gefühlsleere das Grauen noch weiter verstärken. Géza Röhrig überzeugt in seiner ersten Filmrolle durch die intensive wie zurückhaltende Darstellung eines Häftlings, der jede Hoffnung aufgegeben hat und schon fast mechanisch funktioniert, um nicht an der schrecklichen Situation zu zerbrechen und – vor allem – um nicht aufzufallen. Indem Nemes den Fokus nur auf Saul legt, verliert sich der Film auch nicht im riesigen Horrorgeflecht des Zweiten Weltkriegs, sondern erzählt nur Sauls Geschichte, die sich allerdings sehr langsam entfaltet und mit ganz wenig Informationen auskommt. Auch am Schluss weiss man nicht viel mehr über ihn als am Anfang des Films. Die Nähe der Kamera zu Saul erzeugt eine Unmittelbarkeit, aber gleichzeitig auch eine Orientierungslosigkeit, die zu einem Gefühl von Unbehagen und Beklemmung führt. Dass Saul Kopf und Kragen riskiert, um seinen Sohn zu beerdigen, erscheint an einem Ort voller Toten etwas absurd, doch für ihn ist es ein Grund zum Leben, oder vielmehr zum Überleben. 

 

Die neuartige Herangehensweise an das Thema des Holocaust, die überzeugende schauspielerische Leistung und eine etwas ungewöhnliche Geschichte haben massgeblich zum Erfolg des Films beigetragen. «Son of Saul» erhielt 2015 in Cannes den Grossen Preis der Jury, 2016 den Golden Globe als «Bester fremdsprachiger Film» und wurde am 28. Februar 2016 schliesslich mit dem Oscar als «Bester fremdsprachiger Film» ausgezeichnet.

 

 

«Son of Saul» zeigt den Versuch eines Vaters, seinem Sohn wenigstens im Tod etwas Würde zurückzugeben - berührend und erschütternd zugleich. 

 

  • Son of Saul (Ungarn 2015)
  • Regie: László Nemes 
  • Besetzung: Géza Röhrig, Urs Rechn, Todd Charmont
  • Laufzeit: ca. 107 Minuten
  • Kinostart: 17. März 2016

 

 

 

Sule Durmazkeser / Mi, 16. Mär 2016