Auf den Spuren des Lebens

DVD-Kritik: Der grosse Sommer
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© Impuls Pictures AG / Tellfilm

Anton «Toni» Sommer war einst ein grosser Schwinger. Heute lebt er alleine und zurückgezogen in einem Berner Vorort und bastelt Flaschenschiffe. Immer wieder besucht er seinen alten Rivalen auf dem Friedhof und hat mit dem Leben fast ein wenig abgeschlossen. Über ihm lebt die Vermieterin mit ihrem halbasiatischen Enkel Hiro, der voller Leben ist und am liebsten Sumo-Ringer werden möchte, wie es sein Vater einst war. Mit lärmintensiven Tagträumen sorgt der Junge beim griesgrämigen Sommer mehrfach für Ärger, weckt aber auch ein wenig Sympathie. Als nämlich die Grossmutter des Jungen stirbt, lässt sich «Onkel Toni» erweichen und begleitet den Jungen nach Japan, damit der Sumo-Ringer werden kann. Etwas entgeistert begegnet der Berner Rentner der fremden Welt Tokyos, lässt sich von der Energie des Jungen jedoch mehr und mehr begeistern.

 

Für den Jungen ist der frühere Top-Schwinger Sommer sowieso eine Art Schweizer Sumo-Ringer und so besuchen sie in Japan gemeinsam einen Sumo-Kampf. Sommer beginnt langsam zu verstehen, was daran so faszinierend ist und setzt sich nach anfänglichem Wehren immer stärker für den Traum des Jungen ein. Doch der will keinen Unterricht in Tokyo selbst, sondern bis zum Ursprung der Tradition, auf die Insel, wo ein exklusiver Sumo-Lehrer früher seinen Vater die Tradition lehrte. Auf der Reise durch Japans Landschaft stossen die ungleichen Weggefährten immer wieder auf Hindernisse und ziehen sich mehrfach mit List aus der Patssche. 

 

Der Schwinger ist Gnädinger auf den Leib geschrieben.  

 

Regisseur Stefan Jäger inszeniert Mathias Gnädinger als grummligen Ex-Schwinger wundervoll. Für den inzwischen verstorbenen Gnädinger war Anton Sommer die letzte grosse Rolle und besser hätte er sich nicht verabschieden können. Egal, ob er beim Basteln an den Booten viel Feinmotorik beweist oder beim zarten Flirt mit einer Japanerin an der Sprachbarriere scheitert, Mathias Gnädinger spielt mit Gespür für die Situation und mit viel Leidenschaft. Die Figur von Anton Sommer scheint wie für den grossen Volksschauspieler geschrieben. 

 

Das pure Gegenteil ist der halbasiatische Junge Hiro, den Sommer meist nur «Bueb» ruft. Es ist hibbelig, scheint gedankenlos zu handeln und sorgt mehr als einmal ungewollt für Probleme, manchmal entsteht sogar der Eindruck, dass ihn andere Menschen kaum interessieren. Wenn er sich dann aber an den Bauch von Gnädinger schmiegt, unterstreicht der Kontext wunderbar, dass sie gemeinsam weniger allein sind und er sich beim grummligen «Toni» geborgen fühlt. Die Rolle von Loïc Sho Güntensberger erinnert mit ihrer Art und dem markanten Trenchcoat ein wenig an Data aus dem Kult-Film «The Goonies». Ob das eine Reminiszenz ist oder aber eher Zufall, liegt wohl im Auge des Betrachters, er verleiht dem Jungen jedenfalls eine besondere Facette.  

 

Schuhe wechseln, für die Toilette 

 

Auffällig ist, wie liebevoll die Macher auf gewisse Details geachtet haben, was dem Drehbuch zu verdanken ist. Etwa der kurze Moment, in dem Hiro nach der Hand von Sommer greift, als die Grossmutter tot gefunden wird. Oder dass im Radio «Oh Läck du mir» des Trio Eugster erklingt, wenn Sommer das Gerät anschaltet, ist natürlich kein Zufall, sondern unterstreicht die Lebenssituation Sommers. «Der grosse Sommer» hat aber jene zwei Ebenen, die besonders begeistern. Da ist einerseits der Kulturschock, den der rüstige Berner in Japan erlebt, wenn er plötzlich für die Toilette andere Schuhe anziehen soll als für das Schlafzimmer. Wobei das Schlafzimmer eher einer Bienenkolonie gleicht. Andererseits liegt aber der Fokus auch auf der immer tiefer werdenden Beziehung zwischen den beiden einsamen Wölfen und diese Storyline überzeugt auf fast allen Ebenen. Klar, einige Jokes sind zwar sträflich vorhersehbar und ein, zwei «Schnäbi»-Witze weniger hätten dem Film nicht geschadet, aber eigentlich ist das nur Beigemüse, denn «Der grosse Sommer» zeigt die letzte Suche eines grossen Schwingers nach sich selbst. 

 

Mathias Gnädinger lebt den Sommer und prägt die Figur mit seiner unvergleichlichen Art. Das macht nicht nur den Film wunderbar, sondern ist ein eindrückliches Vermächtnis für den grossen Schauspieler. Eine Paraderolle für Mathias Gnädinger. 

  • Der grosse Sommer (Schweiz 2016)
  • Regie: Stefan Jäger
  • Drehbuch: Theo Plakoudakis, Marco Salituro 
  • Darsteller: Mathias Gnädinger, Loïc Sho Güntensberger
  • Laufzeit: ca. 100 Minuten
  • Veröffentlichung: 25. August 2016

 

 

Patrick Holenstein / Do, 25. Aug 2016