Kein Spoiler-Alarm, sondern persönliches Kino

Moviekritik: Samsara
Bildquelle: 
www.rialto.ch

In fünf Jahren bereisten Ron Fricke und Mark Magidson 25 Länder, woraus der neue Dokumentarfilm entstanden ist. Die zwei Filmemacher, die bereits CHRONOS (1985) und BARAKA (1992) zusammen gemacht haben, beeindrucken wieder mit einer eindrücklichen Weltreise ohne Worte. Der Zuschauer soll sich im Zusammenspiel der kraftvollen Bildern und der Musik inspirieren lassen und durch eine Art Meditation seine eigene innere Interpretation erleben. 

 

Keine Antworten, sondern Fragen

 

SAMSARA beginnt mit der Tanzkunst asiatischer Tempeltänzerinnen, die wie Puppen aussehen. Ihr buntes Make-Up betont ihre aufgerissenen Augen, die den Zuschauer eindringlich ansehen. Wie die Schlange, die von ihrem Beschwörer verzaubert wird, so fühle ich mich gerade. Mit einem aufgesetzten Lächeln folgen sie ihren anmutigen Bewegungen. Während ich mich frage, welchem Zweck dieser Tanz dient, beeindruckt mich die grossartige Bildqualität. Jede Pore wird ersichtlich.

 

Gedreht wurde auf einer Panavision 70mm-Kamera und auf einer speziell für dieses Projekt entworfenen Motion-Control-Zeitraffer-Kamera. Danach wurden die Bilder gescannt und mit Hilfe eines aufwendigen Konvertierungsprozesses digitalisiert. Dieses 4k-Projektionssystem ermöglicht die faszinierenden Bilder in einer aussergewöhnlichen Klarheit und Detailgenauigkeit zu zeigen.

 

Bild:  Tempel in der Ebene von Bagan, Myanmar

 

Es dauert jedoch eine Weile, trotz imposanter Aufnahmen, bis ich dem Film verfalle. Viele Fragen kommen auf: Wo lässt die Sonne diese verschnörkelten Tempel in orangem Licht erscheinen, die sanft zum Klang der Musik überfolgen werden? Die umliegenden Wälder und Wiesen, deren Grün kraftvoll hervorsticht, wirken wie eine Märchenlandschaft. In welchem Zeitalter leben wir, indem es noch aussieht wie in der Steinzeit? Werde ich mich noch langweilen, wenn nichts erklärt wird?

 

Keine Langeweile, sondern spannende Kontraste

 

Die Neugierde siegt und ich kann ungeniert die verschiedenen Menschen und ihre vom Leben gezeichneten Gesichter bestaunen. Viele Bilder und die gewählten Kontraste sind zwar schön, aber nicht überraschend. Von gelbgekleideten Fabrikarbeitern, die Unmengen an elektronischen Geräten zusammenschrauben, wechselt das Bild zu riesigen Bergen von Elektroschrott. Alles wird wieder eingestampft und zerschlagen und wirft die Frage nach Sinn und Unsinn auf. Von ruhigen Aufnahmen einer Buschfrau rast die Kamera über die Hochhäuser einer Metropole voller Lichter. Interessant ist dabei, dass der Zeitraffer nun eine andere Wirkung hat, als bei verlassenen Statuen, wo nur die Schatten wandern. 

 

 

Bild: Nemrut Dagi, National Park in der Türkei

 

SAMSARA erinnert stark an seine zwei Vorgänger, aber die geschickte Aneinanderreihung der Bilder überrascht und ist ausdrucksstark. Hier ein Beispiel mit meinen Gedanken: Fleisch wird entfettet. Ekelhaft. Hühner werden massenhaft mit einem Mäher eingesammelt und in Plastikschubladen gesteckt. Brutal. Fabrikarbeiter spreizen den geköpften Hühnchen die Beine und in einem weiteren Schritt werden sie abgehackt. Ist das ein Aufruf zum Vegetarier-Dasein? Als nächstes kommen massenhaft Schweine, denen die Eingeweide heraushängen. Jetzt ist mir übel. Die Menschen kaufen massenhaft Nahrungsmittel ein. Übergewichtige Menschen essen Burger und Pommes und schlussendlich bleibt die Kamera auf einem überdimensionalen Bauch haften, der gerade bei einem Schönheitschirurgen die nötigen Einzeichnungen verpasst bekommt.

 

Keine Grenzen kennen, vollfressen und dann absaugen. Aber die Kette geht noch weiter. Von den chirurgischen Eingriffen zeigen uns die Filmemacher die Bemalung von Puppenköpfen. Strebt der Mensch nach dem Aussehen einer Puppe oder sind die Surrogates unsere Zukunft? Dollys mit den perfekten Körpermassen liegen aneinander und die Kamera hält einen Puppenkopf mit offenen warmen Augen fest, die schon fast etwas Menschliches haben. Schnitt. Nun in derselben Perspektive schaut uns ein hübsches Mädchen an.  Der rückwärts Zoom zeigt uns mehrere tanzende Mädchen im Bikini an der Stange und auf sich drehenden Podesten. Mensch Puppe, Puppe Mensch, die Verschmelzung hat stattgefunden.

 

 

Bild: Puppenfabrik in Japan  

 

Bild: Tanzende Mädchen im Bikini

 

Die Filmemacher überraschen zudem mit einem theatralischen Einschub, der hier jedoch nicht verraten wird. Nur so viel: Seht zu, wie sich ein Geschäftsmann in ein Monster verwandelt.

 

Keine Kanten, sondern ein sich schliessender Kreis

 

Das Sanskrit-Wort SAMSARA bezeichnet den ewigen Kreislauf Geburt, Tod und Wiedergeburt. Nebst Bildern von frisch Geborenen, Gestorbenen, nimmt die Kamera auch Motive des Kreises und der Religion auf. So zum Beispiel dürfen wir beobachten, wie buddhistische Mönche in roten Gewändern um einen runden Tisch stehen und mit viel Geduld, Konzentration und Hingabe ein Mandala aus farbigem Sand erstellen. Kurz vor Schluss des Filmes kehren wir zu diesen Mönchen zurück und sehen zu, wie sie vor dem farbenfrohen Bild beten und alles wieder verwischen. Das soll die Vergänglichkeit aller Dinge symbolisieren.

 

Bild: Tausend-Hände-Tanz aus Beijing

 

Zu Beginn des Filmes schloss die in Gold gekleidete Chinesin ihre Augen. Nun öffnet sie ihre Lider wieder und führt die Tanzkunst der 1‘000 Hände vor. Sie schliesst ihre Augen erneut und mit diesem Symbol hätte ich den Film beendet. Die Filmemacher machen jedoch noch mit wiederkehrenden Wüstenbildern weiter. Macht aber nichts, die 95 Minuten sind schnell verflogen und vielleicht wollten die Filmemacher nicht, dass die Zuschauer die Augen von den gewonnenen Eindrücken verschliessen. Wer diesem Film nicht verfallen kann, wird wohl oder übel müde aus dem Kinosaal spazieren und einige schöne Bilder mitnehmen. Ich durchlebte jedoch eine Achterbahn der Gefühle und wiedermal wurde mir klar: Der Mensch ist ein Mysterium und unser Planet birgt noch viele Wunder.

 

  • Samsara (USA 2011)
  • Drehbuch: Ron Fricke und Mark Magidson
  • Regie und Kamera: Ron Fricke
  • Laufzeit: 95 Minuten
  • Kinostart: 13. September 2012

 

Tamara Lipp / Do, 06. Sep 2012