Die Liebe in Zeiten der Weltkriege

Buchkritik: Léon und Luise

Text von Jasmin Camenzind

 

Ja, schon klar, die ganze Welt liest gerade Fifty shades of Grey. Dieses Buch, das uns endlich gezeigt hat, was Frauen wirklich wollen (nämlich sexuelle Gewalt und emotionale Kälte).

Für alle, die das nach wie vor anders sehen und für alle, die gerne ein gutes Buch an den Strand mitnehmen, wie wäre es mit Léon und Luise von Alex Capus? 

 

Eine Liebe während und zwischen den Weltkriegen 

 

Frankreich, 1917. Zum ersten Mal begegnet Léon Luise als siebzehnjähriger Rebell ohne Grund, irgendwo in der normannischen Provinz. Der Wunsch, sich für die Kriegswirtschaft einzusetzen und notorisches Schuleschwänzen haben ihm den höchst ehrenvollen Posten als Morseassistenten des Bahnhofvorstehers im verschlafenen Städtchen Saint-Luc-sur-Marne eingetragen. Genau dort ist auch Luise in ihrer rot-weiss gepunkteten Bluse auf einem alten Herrenfahrrad für die Kriegswirtschaft unterwegs. Schwungvoll überholt sie den völlig verdutzten, gerade eintreffenden Léon. Und so wird es während des ganzen Buches bleiben: Luise ist immer eine Nasenlänge voraus, macht den nächsten Schritt, trifft die Entscheidungen und Léon trottet hinterher und hält sich dran. 

 

Zurück nach Saint-Luc-sur-Marne. Nach einer ersten zarten Annäherung werden die Liebenden durch einen Bombenangriff der Deutschen, in dem beide schwer verletzt werden, getrennt. Erst zehn Jahre später sehen sie sich durch die Scheibe zweier einander entgegen fahrender Métrozüge wieder, worauf ein einziges, leidenschaftliches Treffen folgt. Léon ist nämlich mittlerweile verheiratet, Vater und Angestellter beim chemischen Labor der Kriminalpolizei, wo er Speiseproben auf Giftrückstände prüft. Niemals würde er etwas tun, das seine Frau und seine Kinder verletzen könnte. Und auch Luise, die zwar frech und keck ist, aber selbstlos und moralisch unantastbar wie die anderen Figuren im Buch, weiss das und nimmt Léon das Versprechen ab, dass er ihr niemals auflauern wird. Und so gehen viele Jahre der Sehnsucht und der Tagtraumliebe ins Land, bis der zweite Weltkrieg das wohlgeordnete Leben aller Beteiligten erneut durcheinander bringt… 

 

Etwas fade Figuren … 

 

Fast möchte man dies ein Glück nennen. Ohne die tatkräftige Unterstützung der turbulenten Weltgeschichte in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts wäre die kleine Liebesgeschichte zwischen Léon und Luise nach diesem abgerungenen und sklavisch eingehaltenen Versprechen vielleicht endgültig vorbei. Vom guten Léon wünscht man sich als Leser nämlich mehr als ein Mal ein bisschen mehr Feuer unter dem Hintern. Es ist Luise, die bei ihrer ersten Begegnung nach über einem Jahrzehnt im Auto über ihn herfällt, nicht etwa umgekehrt und es ist seine Frau Yvonne, die diesen Überfall überhaupt erst ermöglicht, indem sie Luise ausfindig macht. Alles müssen die Frauen für ihn regeln. Und auch diese Frauenfiguren wirken in ihrer Korrektheit ein wenig fad. Leidenschaft ist zwar da, aber vernünftig kanalisiert, unterdrückt zum Wohle der anderen, irgendwie adrett verpackt und keimfrei serviert. 

 

… originell gewürzt mit historischen Tatsachen 

 

Dennoch liest sich Capus‘ Roman leicht und flüssig. Melancholische Poesie und Nachdenklichkeit wechseln sich mit scharfer und doch liebevoller Ironie ab, sodass das Buch trotz etwas langweiliger Figuren nicht langweilig wird. Nicht nur die Handlung verdankt der Weltgeschichte viel, auch Capus´ Prosa ist mit zahlreichen historischen Details und Anekdoten verfeinert, die sich gekonnt in die Liebesgeschichte einweben und die Spannung erhöhen. Zum Beispiel verlässt am 14. Juni 1940 ein umgebauter, karibischer Bananendampfer namens „Victor Schoelcher“ Frankreich, nur wenige Stunden vor dem Einmarsch der Deutschen, an Bord zweitausend Tonnen Gold der Banque de France (und Luise), welches die Kriegsjahre irgendwo in der Hitze der senegalesischen Steppe verbringen wird. Schon gewusst? Eben. „Think local“ kann hin und wieder auch in der Literatur nicht schaden. Alex Capus lebt und arbeitet nämlich in Olten, was der französische Charme, den sein Roman Léon und Luise ausstrahlt, wohl kaum vermuten liesse. 

 

  • Léon und Luise
  • Autor: Alex Capus
  • Verlag: Hanser Verlage
  • ISBN: 978-3-446-23630-1
  • : Im Handel erhältlich

 

Patrick Holenstein / Mo, 06. Aug 2012