alt-Js «The Dream» – eine Konsumanleitung

CD-Kritik: alt-J mit The Dream
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Coverbild, zVg

Alt-J haben sich noch keinen Fehltritt geleistet. Jedes Mal, wenn sie wieder eine Reihe an Songs veröffentlichen, stehe ich sofort an der metaphorischen Kasse, die Wärme der frisch gebrannten CD spüre ich durch das hauchdünne Plastik an den in freudiger Erwartung leicht schwitzigen Fingerspitzen.

 

Ich liebe nicht alle Lieder der drei Musiker aus Leeds, aber ich liebe es, mir alles anzuhören, was sie herausgeben. Das Album «Relaxer», das vor rund fünf Jahren erschien, ist das vielleicht in sich stimmigste Werk ihrer Diskografie und dauerte mit nur acht Songs keine Sekunde zu lange.

 

Was die Band geschafft hat, ist das, was die meisten erfolglos versuchen: Sie sind über die erste Dekade ihrer Karriere hindurch frisch, interessant und experimentell geblieben, ohne ihren eklektischen Charakter zu verlieren.

 

alt-J - «U&ME»

 

Auch diesmal ist es so. Die säuselnde Stimme von Joe Newman, die bereits nach der ersten Hörerfahrung für jede Person unverkennbar wird, biegt und wendet sich in neue Richtungen, bleibt aber – unverkennbar. Verschiedentlich gibt es Rhythmen und Perkussionsarrangements, die mich an frühere Songs erinnern – gleichzeitig aber mal durch Aggression, mal durch Sanftheit überraschen. Die charakteristische Mehrstimmigkeit ist ebenfalls zurück – aber auch hier höre ich Harmonien, welche mein Verständnis des Musikhorizonts der Gruppe erweitern. Unter anderem hat sich das Spektrum der weiblichen Gesänge, die inkludiert werden, deutlich verbreitert.

 

Und weiterhin, in einer überwiegenden Mehrheit, finde ich Songtexte, die ich mal akustisch, mal inhaltlich unmöglich zu verstehen vermag. Dennoch verbinden sie mich durch verstreute Wortfetzen mit verschiedensten Gefühlen und fungieren immer wieder überraschend gut als Vermittler zur Welt von alt-J.

 

Die definitive und absolute Konsumempfehlung anhand von vier Phasen in Ihrem Alltag, der Sie zu einem erfolgreichen Hörerlebnis zwingend folgen müssen, finden Sie nachfolgend.

 

1 An einem nebligen Morgen, an dem Sie nur mit Mühe die Musse finden, ein Bein über die Bettkante zu bringen.


In einem solchen Moment hören Sie sich am besten «Bane» an. Das Intro zum Album erinnert in Teilen rhythmisch an eröffnende Songs von anderen Alben der Band oder das Lied «Nara». Die Mischung aus wässriger und von Blues geprägter Stimme, gepaart mit einem wohlklingen Piano und voll von überraschenden Wendungen wird Sie garantiert aus dem Bett bringen.

 

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2 Als Motivator für Ihre widerstrebenden Bemühungen, ein zweites Bein über die Bettkante zu bringen und ihren Körper pro Forma zu einem Minimum an Sport zu zwingen.


Wenn Sie morgens gerne joggen gehen, dann wird Ihnen der niemals haltende Rhythmus des kurzen Liedes «Hard Drive Gold» den nötigen Antrieb spenden, sich vor die Haustüre zu begeben und Ihren Körper zu bewegen. Der Song eignet sich ohne viel Überraschungen aber (wie der Titel schon verrät) mit viel Drive gut als Single. Hören Sie allerdings nicht zu genau auf den Text – die Zeilen, die eventuell das Thema Kryptowährungen behandeln, sind selbst so kryptisch, dass sie unmöglich zu entschlüsseln sind.

 

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3 Während dem melancholischen Überdenken und Hinterfragen der eigenen Lebensentscheidungen sieben Minuten vor der ersten Zoom-Sitzung des Tages.


Das Lied «Happier When You’re Gone» repräsentiert im Gegensatz zu «Hard Drive Gold» interessante Wechsel zwischen eingängigen Rhythmen, ruhigen Momenten und einer Melodie, bei der Newman nicht nur die eigenen Stimmbänder und die Saiten seiner Gitarre weich zum Schwingen bringt, sondern auch die Seele der Konsument:innen.

 

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4 Bei der Tätigkeit eines früheren Hobbies wie Skateboarden oder Eislaufen oder Kochen, bei dem Sie erst von hoffnungsvoller Nostalgie durchsetzt den Eindruck haben, nicht gealtert zu sein («U&ME»), schnell aber erinnert Sie das Leben mit einer kleinen Verletzung wie dem unvermeidbaren vertretenen Fuss oder einem schmerzhaft tiefen Schnitt im Finger, dass Sie nie wieder derselbe sein werden - vor allem aber auch nicht wollen («Get Better»).


Die beiden Lieder, die zu den vor der Albumveröffentlichung erschienen Singles gehören, sind die wohl oberflächlichsten der Platte und vielleicht der Gruppe insgesamt. «U&ME» lässt sich problemlos als unaufdringlicher Feel-Good-Song während dem Abendessen im Hintergrund laufen; mit seinen einfachen Akkordfolgen und dem harmonischen «It’s just you and me now!» wird dieses Lied keine Sensibilitäten stören. Er wird aber auch niemanden aufhorchen lassen.


«Get Better», vom Sänger mit der Intention geschrieben, seiner Freundin während ihren Menstruationskrämpfen beizustehen, ist herzig. Aber das Lied fällt mit seinen konventionellen Harmonien für den Kontext von alt-J etwas uninspiriert aus - und ist mit sechs Minuten definitiv zu lange.

 

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Und dann gibt es wieder zwei Songs auf diesem Album, die, wie «Dissolve Me» und «Interlude 1» vom Debüt, wie «Arrival in Nara» und «Choice Kingdom» zwei Jahre später, wie «Adeline» und «Pleader» auf der letzten Platte, die nicht die meiste Aufmerksamkeit erhalten haben, die aber bei wiederholtem Anhören treffsicher in fast jedem Kontext zu einem Resonanzerlebnis führen. Auf dem neuen Album sind das für mich «Chicago» und «Philadelphia».


Das sind die Lieder, die man nicht in den eigenen Alltag integrieren muss; sie holen einen in ihre Welt. Egal, ob man sich gedankenverloren auf einem eigentlich dafür viel zu kurzen Spazierstück für wenige Minuten die Kopfhörer in die Ohren steckt, oder gerade den Bus verpasst hat und den Gedanken auch keine sieben Minuten nachhängen mag: Für die Dauer dieser beiden Songs bin ich für einmal meiner Umwelt gegenüber nicht taub; alles um mich herum hört einen Moment tatsächlich auf, irgendwelche Geräusche zu machen. Und plötzlich verstehe ich endlich einen Songtext ganz deutlich: «An apparition lifts me up.»

 

 

Jonas Stetter / Do, 10. Feb 2022