The truth is out there

Serien-Kritik: Akte X
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© 2015 Twentieth Century Fox Home Entertainment

Am 17. Dezember 2015 bekam eine Serie, die das Attribut «Kult» so richtig verdient, endlich den Auftritt für das Heimkino, den sie längst verdient hat. «Akte X», 90er-Kultserie und Sprungbrett für das Hauptdarsteller-Duo David Duchovny und Gillian Anderson, gibt es seit ein paar Wochen als Gesamtbox mit allen neun Staffeln, in High Definition auf Blu-Ray. Und – sehr wichtig – für die Neuauflage wurde die Serie endlich komplett vom verstaubten 4:3-Format befreit. Das Bild leuchtet förmlich und verleiht der Serie eine neue Frische. Die Gesamtbox ist zudem mit vielen Extras bestückt. Aber legen wir den Fokus auf eine aussergewöhnliche Serie:

 

Eine junge Frau rennt panisch durch einen Wald. Sie ist auf der Flucht. Man sieht nicht, was sie verfolgt, nur in angedeuteten roten Lichtern manifestiert sich die Bedrohung. Die Frau stürzt, fällt eine kleine Böschung hinunter, bleibt kurz benommen liegen. Als sie sich aufrappelt, erstrahlen zwischen den Bäumen grelle Lichter. Es beginnt zu stürmen und der Umriss eines Menschen hebt sich plötzlich vom Licht ab. Er geht langsam auf sie zu, bleibt ein paar Schritte vor ihr stehen. Schnitt. Polizisten finden die junge Frau tot im Wald. Sie weist zwei merkwürdige Muttermale auf, die absolut synchron und augenscheinlich sehr neu sind. Der leitende Sheriff kommentiert unheilschwanger: «Es passiert also wieder.» Schnitt. Man sieht eine Frau in ein Gebäude laufen. Sie trägt ein etwas konservatives Jackett und weisst sich am Empfang als Dana Scully aus. Sie betritt ein Büro, in dem sie drei Männer empfangen. Einer davon raucht ununterbrochen, sagt aber kein Wort. Er wird im Laufe der gesamten Serie als der «Krebskandidat» eine tragende Rolle spielen. Scully wird von F.B.I.-Direktor Skinner mit der Aufgabe betreut, dem FBI-Agenten Fox Mulder, der den Beinamen «Spooky Mulder» trägt, auf die Finger zu schauen. Fox Mulder ist für die sogenannten X-Akten zuständig. Darin werden jene Fälle des F.B.I. gesammelt, die rational nicht erklärbar sind. Als Scully das erste Mal an Mulders Bürotür klopft, kommentiert dieser zynisch: «Bedaure, niemand zuhause, bis auf den allseits unerwünschten Mr. Mulder». Das Büro ist ein Chaos. Akten stapeln sich, Notizen und Blätter zieren die Wände und mitten drin hängt ein Poster, auf dem «I Want To Believe» steht. Man wähnt sich im Büro eines Verschwörungstheoretikers. Nur, Mulder hat Zugriff auf Regierungsdaten. 

 

 

Scully ohne Mulder im Einsatz. 

 

So fängt eine der wichtigsten Mystery-Serien der Neunzigerjahre an. Unspektakulär und doch sehr vielsagend. In den ersten Minuten wird die Prämisse wunderbar gezeichnet. Da ist die Ärztin Dana Scully. Wissenschaftlerin und durch und durch Realistin. Sie glaubt weder an Gott noch an alles, was nicht irgendwie rational zu erklären ist und trägt trotzdem ein Kreuz um den Hals. Das komplette Gegenteil ist Fox Mulder. Er ist ein wandelndes Lexikon für Verschwörungstheorien, feuriger Suchender nach der Wahrheit und pornosüchtig. Er glaubt zuerst und sucht dann nach Beweisen für seine Thesen. Interessanterweise verbindet die beiden Agenten die Leidenschaft für ihre jeweiligen Überzeugungen. Also beginnt das ungleiche Duo für die X-Akten zu ermitteln. Je länger sie Partner sind, desto mehr verschwinden die klaren Grenzen. 

 

Das Spiel mit den Gegensätzen ist ein Faktor, der viel zum Erfolg der Serie beigesteuert hat. Von Anfang an kommt dieser Tanz mit den Attitüden im Kontext vor und macht sofort klar, dass das Zentrum der Serie nicht nur die Verschwörung ist, der Fox nachjagt, sondern auch die zwischenmenschliche Beziehung zwischen ihm und Scully. Dazu kommt, dass «Akte X» zwar eine ernstgemeinte Serie ist, sie aber nicht im Geringsten Anspruch erhebt, realistisch zu sein. Selbst, wenn vor dem Piltofilm steht, dass er auf wahren Begebenheiten basiere. Jedenfalls wird schon in der ersten Episode «Gezeichnet» die Alien-Verschwörung lanciert, die sich durch die ganze Serie zieht. 

 

Alien-Verschwörung vs. Monster of the Week

 

Chris Carter, der «Akte X» erfunden hat und an den meisten Büchern kreativ beteiligt war, und sein Team haben sich entschieden, der Serie sowohl einen roten Faden zu geben, als auch Episoden zu schreiben, die nichts mit der übergeordneten Handlung zu tun haben. Sogenannte «Monster of the Week»-Episoden. Dadurch wurde die Serie für Hardcore-Fans interessant gehalten, gleichzeitig konnte man jederzeit lose reinschnuppern und sich von der Spannung der Serie gefangen nehmen lassen, selbst wenn man nicht jede Folge verfolgen wollte. Natürlich fehlen kleine Mosaiksteinchen, wenn die Serie nur lückenhaft geschaut wird, aber dem Genuss schadet das nicht. Es gibt nur wenige Folgen, die nicht in sich abgeschlossen sind. 

 

Mit der Zeit muss man als Zuschauer Partei ergreifen. Entweder man glaubt Mulder/Scully oder eben nicht. Allerdings wird die Serie so aufgebaut, dass es fast unmöglich ist, dem Duo nicht zu glauben. Mehrfach werden die X-Akten geschlossen, als Mulder sich mit hohen Tieren innerhalb der Regierung anlegt, um ein Exempel zu statuieren. Doch immer wieder sorgt vor allem F.B.I.-Direktor Skinner dafür, dass Mulder weitermachen kann. Weiter bekommt Mulder Schützenhilfe von einem anonymen Informanten, heute würde man Whistleblower dazu sagen. Dann ist da noch der Krebskandidat. Er hat ständig eine Zigarette in der Hand, scheint über die gesamte Verschwörung bis in die höchsten Kreise der Regierung informiert zu sein und irgendwie mit Mulder und seiner Familie verbunden zu sein. Seine Person bleibt aber bewusst im Dunklen und es steht immer die Frage im Raum, ob er Mulder helfen will oder eher schaden. 

 

 

Absoluter Kult: The Lone Gunmen. 

 

Dann gibt es noch eine kultige Truppe, die es sogar auf eine eigene Spin-Off-Serie gebracht hat. «The Lone Gunmen» sind ein Trio von charmant-schrulligen Verschwörungsfreaks und Computer-Nerds, die hin und wieder bei Fällen von Mulder entscheidende Hinweise geben können und wenigstens teilweise in Scully verliebt sind. Leider hat ihre eigene Serie nicht funktioniert und wurde nach 13 Episoden wieder beendet. Dafür sind die drei schrägen Vögel absolute Fanlieblinge von «Akte X»-Anhängern. 

 

Im Laufe der Serie änderte sich die Konstellation. Neue Agenten kamen hinzu. Die Figuren brachen anfangs leicht den Flow der Serie, aber schnell gewöhnte man sich an John Doggett (Robert Patrick) und Monica Reyes (Annabeth Gish) und sie wurden Teil der Geschichte.  

 

Als die Serie 2002 nach neun Staffeln eingestellt wurde, waren viele Antworten, die im Raum standen, beantwortet. Die Serie hatte nach 202 Episoden und einem Kinofilm (inzwischen gibt es einen weiteren Kinofilm) ein Ende gefunden, das glühend diskutiert wurde, aber durchaus rund war. Damit endete ein pas-de-deux zwischen Wissenschaft und Glaube, wie es ihn vorher im deutschen Fernsehen noch nicht gegeben hat. Die X-Akten haben, vielleicht zusammen mit «Twin Peaks» die erzählerische Tonalität von TV-Serien massgeblich geprägt. Das Mystery-Genre hat in den 1990er-Jahren ein Revival erlebt, das mit Serien wie «Lost» oder «Supernatural» bis heute weitergezogen wurde. Ereicht wurde «Akte X» nie. 

 

Ikonische Bilder

 

«Akte X» hat immer funktioniert, weil die Drehbücher gekonnt moderne Mythen und Verschwörungstheorien in packende Geschichten verflechtet haben. Oft sind die Geschehnisse so geschickt erzählt, dass man sich nicht sicher sein kann, was wirklich passiert ist. Unbefriedigend ist das aber nie, weil die Voraussetzung, einer Ermittlung für eine X-Akte zu folgen, voraussetzt, dass mal ein Fall ungelöst bleibt kann. Das liegt in der Definition der Prämisse. Die Macher sorgten mit Episode 2 der vierten Staffel sogar für einen handfesten Skandal. «Blutschande» erzählte die Geschichte einer inzestuösen Familie, die Menschen umbringt. Das hat zwar nicht viel mit Übersinnlichem zu tun. Trotzdem war die Episode für die Serie wichtig. Nicht wegen des Tabubruchs, sondern weil die Tatsache unterstrichen wurde, dass den X-Akten nicht immer Übersinnliches zu Grunde liegt. 

 

«Akte X» steht aber auch für eine gekonnte Inszenierung. Ob der Schatten des Rollladens auf Scullys Gesicht fällt, wie es als Stilmittel im Film Noir oft zu sehen ist, oder ob ein Unterseeboot aus einem gefrorenen See auftaucht, ins Gegenlicht geleitet und eine unheimliche Skizze in den Nebel zeichnet. «Akte X» hat das filmische Erzählen in TV-Serien sicherlich mit geprägt und nicht selten ikonische Bilder geschaffen. Ein weiterer Glücksgriff war der Komponist Mark Snow, der den Titel-Score geschrieben hat. Dieser hat selbst in die Techno-Szene Einzug gefunden und zählt sicherlich zu den markantesten Scores für eine TV-Serie. Die Entstehung war ein Glücksfall. Mark Snow ruhte sich mit den Ellbogen auf dem Keyboard aus. Dabei war die Echo-Funktion aktiviert und das Resultat gefiel ihm so gut, dass er daraus das Thema schrieb. 

 

«Akte X» ist im Kern nicht mehr, als die Geschichte eines modernen Don Quijote, der gegen die Windmühlen der Regierung ankämpft. Ein Mann, der seiner tief verwurzelten Überzeugung folgt, ohne zu zweifeln. «The Thruth Is Out There» bringt schnörkellos auf den Punkt, was die Figur des Fox Mulder denkt. Es muss so sein, wenn er genug lange suchen würde, könnte ihm die Wahrheit gar nicht entfliehen. Neun Staffeln und 202 Folgen lang dauerte sie Suche. Wobei Gillian Anderson das einzige Mitglied im Cast ist, das in allen Episoden der Serie zu sehen ist. 

 

 

Eindrückliche Sets und aufwändige Gestaltung sind bei «Akte X» keine Seltenheit. 

 

Als die Serie 2002 zu Ende ging, war der Tenor bei Experten und Fans gleichermassen klar. Sowohl Duchvony als auch Anderson würden nie wieder von ihren markanten Figuren loskommen. Ähnlich, wie es einst Anthony Perkins nicht möglich war, sich nach «Psycho» von Norman Bates zu lösen. Gillian Anderson machte es allerdings sehr geschickt, erspielte sich mit clever gewählten Rollen in kleinen, aber hochkarätigen Filmen einen sehr guten Ruf und kehrte vor ein paar Jahren mit «Hannibal» und aktuell mit «The Fall» ins TV-Geschäft zurück. Agent Scully war schnell etwas im Schatten und heute ist Gillian Anderson als Schauspielerin von Scully emanzipiert. David Duchovny versuchte sich erst eine Zeit lang in sichten Hollywoodkomödien, bliebt aber lange einfach zu sehr Fox Mulder. Dann kam irgendwann eine kleine Serie mit rabenschwarzem Humor und Duchovny gelang das Kunststück, ein zweites Mal einen Seriencharakter massgeblich zu prägen. Inzwischen ist Hank Moody aus «Californication» genau so Kult, wie Agent Mulder, und ohne die gnadenlos-leidenschaftliche Verkörperung von David Durchovny nicht denkbar. 

 

Trotzdem hatten beide Hauptdarsteller nie ein Problem mit «Akte X». Das war eher medial aufbereitet. Als nämlich vor einiger Zeit erste Gerüchte über eine Fortsetzung im Netz auftauchten, waren sowohl Anderson als auch Duchovny bereits mit an Bord. Inzwischen ist klar, dass die Serie eine zehnte Staffel bekommt. Sechs Episoden werden es (hoffentlich nur vorläufig) sein. Die zehnte Staffel startet am 4. Februar bei ORF 1 und am 8. Februar bei Pro 7 im deutschsprachigen Raum. Es fühlt sich wie ein Treffen mit alten Bekannten an. Alle sind sie dabei. Direktor Skinner, The Lone Gunmen, der Krebskanditat und natürlich das Duo infernale, Mulder und Scully. Erfreulich ist, dass die Serie kurz vorher in neuem Glanz erstrahlt. So gut, wie auf der limitierten Blu-Ray-Edition hat die Serie noch nie ausgesehen. Das ist für Fans die Möglichkeit, sich «Akte X» als Gesamtbox ins Regal zu stellen und für Menschen, die die Serie nicht schon verschlungen haben, bietet das eine Gelegenheit, sich in den Kosmos von «Akte X» einzusehen und dann gleich mit Stafel 10 weiterzumachen. Wie sehr Staffel 10 auf den bisherigen Episoden aufbaut, ist noch nicht so ganz klar. Was man weiss, die Skandal-Episode «Blutschande» wird erneut aufgegriffen.

 

«Akte X» ist eine Kultserie, wie es sie nur ganz selten gibt. Über neun Staffeln hinweg haben alle Beteiligten sehr viel richtig gemacht und die Serie hat nicht zuletzt vom hervorragenden Darsteller-Duo profitiert. Und zum Schluss sei noch erwähnt, dass der eine oder andere Name in den Credits der einzelnen Episoden auftraucht, den man heute sehr gut kennt. Etwa Lucy «Xena» Lawless, Felicity «Deperate Housewives» Huffman, Tony «Monk» Shalhoub, Jodie Foster oder ein junger Jack Black. Die Liste liesse sich noch viel weiterführen. Aber das Erblicken von heutigen Film- und Serienstars in ihren Anfängen ist ein zusätzlicher Spass. 

 

Mulder und Scully in HD ist für Fans ein bisschen wie ein zweites Weihnachten. Zumindest überbrückt es die paar Wochen, bis neues Futter endlich im TV ausgestrahlt wird.  

  • Akte X (USA 1993 - 2002)
  • Creator: Chris Cater
  • Regie: Kim Manners (52 Episoden), Rob Bowman (33 Episoden) und andere
  • Autoren: Frank Spotnitz (48 Episoden), Vince Gilligan (30 Episoden) und andere
  • Darsteller: Gillian Anderson, David Duchovny, Mitch Pileggi, Robert Patrick, William B. Davis
  • Laufzeit: 201 Episoden à ca. 44 Minuten
  • Im Handel: 17. Dezember 2015

 

 Bilder: © 2015 Twentieth Century Fox Home Entertainment

Patrick Holenstein / So, 03. Jan 2016