Strasse der Gegensätze

Movieklassiker: Mulholland Drive (SZ-Edition)

In der Cinemathek der Süddeutschen Zeitung erscheint eine Edition für Fans von Filmen, die die Grenzen zwischen Fantasie und Realität bewusst verschwinden lassen. Dreizehn Filme wählte die Redaktion sorgfältig aus. Filme, die das Label «Traum und Wirklichkeit» diskussionslos verdienen. Bäckstage stellt in einer Serie drei Filme aus der Sammlung vor und verlost jeweils drei DVDs.

 

Teil 1: Mulholland Drive

 

Die titelgebende Strasse führt durch das Los Angeles County und bildet gleichzeitig den roten Faden in David Lynchs Film. Lynch, der mit Filmen wie «Blue Velvet» oder «Eraserhead» zum Kultregisseur wurde, führt die Handlung immer wieder konsequent auf den gefährlichen Asphalt und sorgt für eine wunderbare gegensätzliche Symbolik. Denn eigentlich hat der Drive wenig Bedrohliches an sich. Fährt man auf dem Mulholland Drive entlang, bietet sich einem eine atemberaubende Sicht auf Los Angeles. Ein Entfliehen in die Natur um Los Angeles ist hier problemlos möglich. Kein Wunder, stehen an gewissen Passagen der Strasse die teuersten Villen von Los Angeles - nicht selten von Filmmenschen bewohnt. Bei David Lynch ist es bestimmt kein Zufall, dass auch bei «Mulholland Drive» die Filmbranche im Zentrum steht. Schauspieler stehlen sich gegenseitig die Rollen, manipulieren, betrügen. Die Figur von Naomi Watts wird in der Filmbranche ausgenutzt und schliesslich brutal fallen gelassen. Quintessenz daraus: In der Filmwelt wird über Leichen gestiegen und gedroht und David Lynch hält mit «Mulholland Drive» der eigenen Gilde genüsslich und gewohnt überspitzt den Spiegel vor. 

 

Das ist aber nur eine mögliche Interpretation des Stoffs, wenn auch eine viel gehörte. Die unzähligen weiteren Ansätze betreffen den Inhalt und sind deutlich kryptischer. Worum geht es? Die junge Kanadierin Betty (Naomi Watts, «King Kong», «21 Gramm») kommt in Los Angeles an, um im Appartement der verreisten Tante zu wohnen und sich eine Schauspielkarriere aufzubauen. In der Wohnung trifft sie auf eine dunkelhaarige Unbekannte (Laura Harring, «Inland Empire»). Diese war kurz zuvor nur durch viel Glück einem Mordanschlag (ein Autounfall mit Todesfolge) auf dem Mulholland Drive entkommen und hat sich in der leeren Wohnung versteckt. Sie weiss weder was passiert ist noch wer sie ist. Betty zeigt keinerlei Bedenken gegenüber der Unbekannten und hilft sogar aktiv beim Erforschen ihrer Herkunft. Daneben bekommt Betty einige Vorsprechen und scheint in der Filmszene auf grossen Anklang zu stossen. Doch die beiden Frauen steigern sich zu sehr in die Identitätssuche hinein. 

 

Vieles führt ins Leere 

 

Bei Lynch ist vieles nur Schein, oft sogar symbolisch zu verstehen. Die ersten zwei Drittel des Films inszeniert David Lynch vordergründig stringent und chronologisch. Fast so gradlinig wie er es in «The Straight Story» tut. Dann aber bricht er jegliche Konventionen und lässt den Zuschauer in einen Strudel aus Verwirrung fallen, der die kleinen Hinweise im ersten Teil des Films erst deutlich macht. Der Wendepunkt ist ein Schlüssel, den die Unbekannte bei sich trägt und der, das passende Schloss endlich gefunden, doch ins Leere führt. Fast wie ein Sinnbild für die mannigfaltigen Interpretationen, die «Mulholland Drive» zulässt und die allesamt nur halbwegs befriedigend sind. Das Spannende ist aber, dass der Stil, den Lynch pflegt, einen trotz der unklaren Deutung gefangen nimmt. Kameraeinstellungen, die nur die Augen einfangen, sorgen für Emotionen, teils bewusst klischierte und naive Rollenzeichnungen wecken Beschützerinstinkt und absurde Szenen machen schlicht Spass. Die Sets sind allesamt grossartig, mal herrlich verschroben (der geheimnisvolle Mann hinter der Produktionsfirma) und mal theatralisch (die opulent gefilmten Szenen im Theater) und mal schlicht schön (lange Titelsequenz den Mulholland Drive entlang). David Lynch versteht sein Handwerk und schafft es, dass man nach den End Credits auf dem Sofa sitzt, beim Versuch, einen zweieinhalbstündigen Film einzuordnen, gnadenlos scheitert und doch begeistert ist. 

 

Ganz fies ist, dass David Lynch selbst zehn Lösungsansätze bekannt gegeben hat. Jedoch führen auch diese nur eingeschränkt zur Lösung, viel eher sind sie Teil des Verwirrspiels, das der Kultregisseur mit «Mulholland Drive» zur Perfektion treibt. Zu finden sind die Hinweise mühelos im Internet, zum Beispiel bei Wikipedia (siehe: Abschnitt Hinweise zur Interpretation). Abschliessend soll die Vertonung des Films noch kurz ein Thema sein. So zeigt sich für den atmosphärischen Score Angelo Badalamenti verantwortlich, der mit den typisch blubbernden Musikwelten schon der Serie Twin Peaks viel von ihrer dunklen Seele gegeben hat. Bemerkenswert ist, dass David Lynch selbst drei Songs komponiert und interpretiert hat. Mulholland Drive ist ein sehenswerter Film, der aber viel zum Nachdenken gibt und mit der mysteriösen Symbolik die Fans bis heute aktiv am Rätseln hält.

 

 

  • Mullholland Drive (FR / USA 2001)
  • Regie: David Lynch
  • Drehbuch: David Lynch
  • Darsteller: Naomi Watts, Laura Harring, Justin Theroux, Ann Miller
  • Länge: 141 Minuten
  • DVD-Start: Die SZ-Edition ist im Handel erhältlich (ISBN: 978-3-86497-057-3)

 

In Kürze folgt der zweite Teil der Serie: Die Milchstrasse von Luis Buñuel.

 

Patrick Holenstein / Fr, 14. Dez 2012