Innerer Kampf mit der eigenen Identität

Movie-Kritik: Girl
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DCM Schweiz

Laras (Victor Polster) grösster Traum ist es, Balletttänzerin zu werden. Als die 15-Jährige an einer renommierten Akademie in Brüssel aufgenommen wird, scheint sie diesem Traum schon einen Schritt näher zu sein. Dafür zieht sie sogar zusammen mit Vater und Bruder nach Brüssel. Doch der Weg zur Ballerina ist schwierig und die Ausbildung anstrengend. Dazu kommen noch die Vorbereitungen auf eine geschlechtsangleichende Operation, denn obwohl Lara durch und durch ein Mädchen ist, ist ihr Körper noch der eines Jungen. Sie wünscht sich die OP sehnlichst herbei und wartet ungeduldig darauf, dass die Hormontherapie erste Wirkung zeigt. Allerdings fordert der Leistungsdruck an der Schule bald schon ihr Tribut und Lara muss sich plötzlich zwischen ihren beiden grössten Träumen entscheiden. Denn durch die extreme körperliche Belastung im Balletttraining steht plötzlich die langersehnte Operation auf dem Spiel. Lara sieht nur noch einen Ausweg und lässt sich schliesslich zu einer extremen Tat verleiten.

 

Es ist kein einfaches Thema, an das sich der belgische Filmemacher Lukas Dhont mit seinem ersten Film «Girl» gewagt hat. Doch der Erfolg gibt ihm recht: Der Film löste bei seiner Premiere am diesjährigen Cannes Film Festival bei Zuschauern und Kritikern gleichermassen Begeisterung aus und wurde mit dem begehrten «Caméra d’Or Award» für das beste Erstlingswerk sowie mit der «Queer Palm» ausgezeichnet. Hauptdarsteller Victor Polster erhielt für seine eindrückliche Verkörperung des Transmädchens Lara den «Un Certain Regard Jury Award».

 

Lara beim Training. (© Kris Dewitte)

 

Dhont gelingt mit «Girl» ein einfühlsames und berührendes Coming-of-Age-Drama. Mit viel Fingerspitzengefühl und Geduld porträtiert er seine Hauptfigur und lässt das Publikum an ihrem Leben teilhaben. Die Kamera bleibt immer nahe bei Lara und erzeugt dadurch eine Intimität und emotionale Intensität, die frei von jeglichem Voyeurismus und auch frei von übertriebener Sentimentalität ist. Durch diese Nähe werden Laras innere Konflikte greifbar, man leidet mit ihr mit und sorgt sich – wie ihr Vater auch – um sie und ihre Gesundheit. Zu den üblichen Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens kommen bei ihr noch eine anstrengende Ballettausbildung und die Vorbereitungen zu einer Geschlechtsanpassung hinzu und man erahnt den immensen Leidensdruck, unter der sie stehen muss.

 

Laras Rückzugsort ist ihr Zimmer. Klein, still, warme Farben, gedimmtes Licht; es bietet ihr eine Flucht vor dem Lärm und den Anstrengungen des Alltags und zugleich einen Raum, um sich mit ihrem Körper und ihrer Identität auseinanderzusetzen. Vieles, was in Lara vorgeht, wird erst dann deutlich, wenn sie mit sich allein ist. Victor Polster gelingt es durch sein nuanciertes und dennoch zurückhaltendes Spiel, dem Publikum einen Zugang zum Inneren der Figur zu gewähren, ohne viele Worte zu verlieren. Denn Laras ruhige, verschlossene Art lässt kaum viele Gespräche zu. Weil wenig gesprochen wird, bleibt aber umso mehr Raum für Unausgesprochenes, das immer irgendwie in der Luft zu hängen scheint. Das macht die besondere Stärke von «Girl» aus. 

 

Dhont ging es bei «Girl» darum, die inneren Konflikte eines Transmädchens zu thematisieren und den Mut und die Kraft zu zeigen, die es dazu braucht, um die eigenen Träume zu verwirklichen. Aus diesem Grund treten äussere Konflikte, mit denen Transmenschen in ihrem Alltag und in ihren Beziehungen zu anderen Menschen konfrontiert werden, im Film in den Hintergrund.

 

«Girl» ist ein absolut sehenswertes Coming-of-Age-Drama, das berührt und fesselt. Victor Polsters überragender Darstellung ist es ausserdem zu verdanken, dass Lara einem für eine lange Zeit im Gedächtnis bleibt.

 

  • GIRL (BEL/NED 2018)
  • Regie: Lukas Dhont
  • Mit: Victor Polster, Arieh Worthalter, Katelijne Damen, Valentijn Dhaenes
  • Laufzeit: : 105 Minuten
  • Kinostart: 18. Oktober 2018

 

Sule Durmazkeser / Do, 18. Okt 2018