Dramaturgie der Weiblichkeit

Moviekritik: Emilia Pérez
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© PATHÉ FILMS AG 2024

Emilia Pérez basiert auf keiner realen Person. Die Geschichte um einen Drogenboss, der durch eine Geschlechtsoperation zur Frau wird, ist pure Fiktion. Leider, denn so mancher mächtige Mann hätte eine Vaginoplastik nötig. Denn ändert sich das Geschlecht, ändert sich auch die Gesellschaft. So der Ansatz des Films. Aber beginnen wir am Anfang.

 

Emilia Pérez mag die titelgebende Protagonistin sein, erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive der Anwältin Rita (Zoe Saldana). Diese befindet sich in einem mentalen Tief. Zwar konnte sie ihren korrupten Klienten vor einem Mordprozess retten, aber Erfüllung oder gar Respekt und Anerkennung findet sie (logischerweise) nicht. Als sie eines Tages auf offener Strasse entführt und zum Drogenkartell-Boss Juan «Manitas» Del Monte (Karla Sofía Gascón) gebracht wird, beginnt für sie eine neues Leben. Manitas möchte seine Geschlechtsumwandlung, die er bereits seit zwei Jahre mit Hormonbehandlungen vorbereitet, mit einer  - wortwörtlich - einschneidenden Operation endgültig abschliessen. Der Haken? Seine Frau Jessica (Selena Gomez) und ihre gemeinsamen Kinder sollen nichts davon erfahren. Ritas Aufgabe ist es, alles sorgsam vorzubereiten und die Umsetzung zu begleiten, danach ist sie reich und frei, so das Versprechen von Manitas. Ohne gross zu spoilern: Manitas wird zur Frau resp. zu Emilia Pérez, soviel gibt der Trailer bereits preis. Und es kommt zu einem Wiedersehen zwischen Rita und neu Emilia. Letztere erträgt die Trennung von ihren Kindern nicht und wünscht, dass diese aus ihrem Versteck in der Schweiz (!) zurück nach Mexico zur Tante (!) Emilia gebracht werden, mitsamt Mami Jessi.

 

  Rita (Zoe Saldana) und Emilia (Karla Sofía Gascón). © PATHÉ FILMS AG 2024

 

Wer ab dem Plot den Kopf schüttelt, sollte darauf hingewiesen werden, dass der gesamte Film als Musical inszeniert ist. Sämtliche (Haupt-)Figuren singen und tanzen sich durch die Dramaturgie der Weiblichkeit. Die Weiblichkeit wird hier zentral zelebriert. Ritas Vorgänger erfüllte seinen Auftrag nicht, Manitas entschied sich daraufhin eine Frau zu engagieren. Als Frau entdeckt Manitas/Emilia neue - zuvor unterdrückte - Seiten an sich und wird zu einem besseren Menschen. Egal wie kitschig oder gar hypokritisch dies alles klingt, es funktioniert wunderbar. Die psychische Verwandlung greift derart weit, dass Emilia eine NGO ins Leben ruft, die im Drogenkrieg verschwundene Personen ausgräbt und so deren Familien zu Closure verhilft. Ja, dies alles ist viel, sehr viel, aber die Seifenoper-Story, gepaart mit der schönen, wenn auch manchmal sehr cringen Umsetzung trifft wirklich mitten ins Herz.

 

Tante Emilia (Karla Sofía Gascón) in ihrem Haus. © PATHÉ FILMS AG 2024

 

Und dies obschon Regisseur Jacques Audiard immense Risiken eingeht, vergleichbar mit den Daniels bei «Everything, Everywhere, All at once». So besucht Rita auf der Suche nach der passenden Person für den chirurgischen Eingriff mehrere Kliniken und landet in einer Showeinlage mitsamt dem Song «La Vaginoplastia». Der Film ist deshalb an manchen Stellen der Absurdität halber wirklich nicht zu übertreffen, driftet dabei aber nie ins Lächerliche und setzt seine Story und Protagonistinnen nie ernsthaft aufs Spiel. Wie Jacques Audiard diesen Spagat geschafft hat, ist ein Mysterium und vielleicht gar ein neues Weltwunder. Eine mögliche Erklärung bieten die vier Darstellerinnen (Zoë Saldaña, Karla Sofía Gascón, Selena Gomez, Adriana Paz) die alle vier (!) in Cannes als beste Darstellerin ausgezeichnet wurden, ein Novum in der Geschichte des Filmfestivals. Verdienste, wie diese zeigen, dass der Film eingefahrene Traditionen und Denkweisen zu sprengen vermag, innerhalb und ausserhalb des Filmes. Die Lage der Frauen ist nicht neu umschrieben und gewiss nicht auf Lateinamerika begrenzt, aber der Film bringt eine moderne, aktualisierte Sicht. So erinnert das Lied «Todo y Nada» an Dolly Partons «9 to 5». 

 

Jessi (Selena Gomez) singt sich das Leid von der Seele. © PATHÉ FILMS AG 2024

 

Und um alle potentiell empörten Wesen zu beruhigen: Natürlich ist die Weiblichkeit nicht nur friedlich, brav, lieb und bringt Frieden sowie Sicherheit. Sie besitzt auch heftigen Zorn und eine destruktive Wut. All dies wird im Film ebenfalls thematisiert und es wird definitiv keine pauschale Aussage ala Frauen sind besser als Männer gemacht. Auch wenn man so manchem mächtigen Mann nichts sehnlicher wünschen würde als eine Vaginoplastik …

 

«Jeder Heilige hat eine Vergangenheit und jeder Sünder eine Zukunft», schrieb Oscar Wilde. Dieser Aphorismus bekommt in «Emilia Pérez» eine unvergessliche, einzigartige und höchst gelungene Inszenierung. Filmemacher Jacques Audiard und die vier Darstellerinnen wagen viel und gewinnen wohlverdient alles. 

 

  • Emilia Perez (FR/US/MX 2023)
  • Regie: Jacques Audiard
  • Besetzung: Zoe Saldana, Selena Gomez, Edgar Ramírez, Mark Ivanir, Karla Sofía Gascón, Adriana Paz, James Gerard, Agathe Bokja, Shiraz Tzarfati, Eduardo Aladro
  • Laufzeit: 130 Minuten
  • Kinostart: 21. November 2024

 

Tanja Lipak / Do, 21. Nov 2024