Die Magie in den Minuten nach Mitternacht

DVD-Kritik: Sieben Minuten nach Mitternacht
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© Impuls Film

Conor (Lewis MacDougal) lebt alleine mit seiner schwerkranken Mutter (Felicity Jones, «Rogue One: A Star Wars Story») in einem tristen, englischen Städtchen. Der Vater wohnt mit neuer Familie in den USA, mit der Grossmutter (Sigourney Weaver, «Alien», «Avatar») hat Conor das Heu so gar nicht auf der gleichen Bühne. Der kreative Junge zieht sich immer mehr zurück, hört Musik oder zeichnet gedankenversunken. Im Alltag ist er ebenfalls ein Einzelgänger, wird gehänselt, geschlagen, gedemütigt und erträgt sämtliche Hiebe der Mitschüler und des Lebens tapfer. Oft blickt er traurig aus dem Fenster, wo wenig entfernt eine Kirche auf einem Hügel vor dem Haus steht. Daneben wächst eine massive Eibe, die Wache zu schieben scheint. Eines Nachts - Punkt sieben Minuten nach Mitternacht - erwacht der Baum zum Leben und geht auf Conor zu, greift wie King Kong nach dem Jungen und packt ihn. «Ich werde dir in den kommenden Nächten drei Geschichten erzählen», beginnt der Baum drohend. «Danach will ich deine Wahrheit hören», schliesst die Eibe. Conor traut seinen Augen nicht, ist verwirrt, wehrt sich erst, beginnt dann jedoch zunehmend Vertrauen, gar Hoffnung zum Baum zu fassen. Mit der Zeit versinkt Conor immer tiefer in seinen Tagträumen, ruft die Eibe gar selbst und längst haben die Fantasien reale Konsequenzen. 

 

«Sieben Minuten nach Mitternacht» ist fantastisches Gefühlskino, ohne je kitschig zu werden. Relativ bald wird deutlich, auf welche Moral der Film schlussendlich hinaus will,  das stört jedoch in keinster Weise. Der Film gehört ganz Conor und seinem Leben. Wir erleben den Film nur aus seiner Perspektive, tauchen mit ihm und seinem Freund, dem Baum, in die Geschichten von verlogenen Prinzen, Pfarrern, die Wasser predigen und opportunistisch Wein trinken und von wütenden Teenagern ein. Die Geschichten des Baums handeln davon, sind aber eigentlich eher Parabeln über Glaube, Verlogenheit und das Verhalten von Menschen an sich. Das ist leicht nachvollziehbar. Allerdings sind die Geschichten auch Symbol dafür, dass das Leben kein Märchen ist. Denn Conor ist mit seinen Ängsten auf sich alleine gestellt. Für die kranke Mutter will er stark sein, von der Grossmutter wird er nicht verstanden. Märchenhaft ist wenig. Da kommt die Eibe zur exakt richtigen Zeit, nämlich dann, als Conor einen Freund ganz dringend braucht. 

 

Gefühlvolles, intensives und schlaues Kino

 

Dass Conor früh im Film mit seiner Mutter «King Kong und die weisse Frau» auf dem alten Projektor ihres Vaters schaut (wer am Schluss des Films genau schaut, entdeckt Liam Neeson, der den Baum spricht, als Grossvater), ist kein Zufall. Hier wird die Symbolik zwar mit dem Dampfhammer eingetrichtert, der Mensch hat nämlich Angst vor allem, was er nicht kennt, aber über den Film gesehen ist das Symbol von Kong als Monster mehrfach interpretierbar, daher schlüssig und clever gewählt und das ist ein Beispiel dafür, wieso «Sieben Minuten nach Mitternacht» so schlau ist. Er erklärt nicht, lässt einen instinktiv mit Conor fühlen, einfach beobachten und selbst interpretieren, nimmt aber trotzdem sanft an die Hand und hält so das Interesse über die volle Länge aufrecht. Dabei sind ein, zwei Taschentücher bei nahe am Wasser gebauten Zuschauern durchaus zu empfehlen. 

 

Der Film basiert auf dem Roman des Amerikaners Patrick Ness. Der hat vor ein paar -Jahren die Idee der Autorin Siobhan Dowd nach deren Tod zuende geschrieben. Darum bekommt sie Drehbuch-Credits. Patrick Ness’s Jugendbuch wurde 2011 veröffentlicht. Regisseur J.A. Bayona hat zuvor schon mit «Das Waisenhaus» oder «The Impossible» gefühlvolles Kino inszeniert und ihm gelingt eine tief emotionale, elegant inszenierte Adaption, die abgesehen von den Szenen mit dem Baum, eher auf eine dezente Erzählweise setzt und so exakt die richtige Mischung trifft.

 

Meist sind die Farben herbstlich-düster, nicht einmal am Meer scheint die Sonne. Dazu sind die Geschichten des Baums als lebendige Wasserfarbenzeichnungen illustriert, was die Erzählung zusätzlich bricht und doch etwas Farbe in die Geschichte bringt. Bayona macht 99,5 % richtig, kann aber am Schluss doch nicht widerstehen, gemäss Hollywood-Konventionen auch das letzte Detail zweifelsfrei zu erklären. Somit ist der Film vielleicht dreissig Sekunden zu lang. Aber das schmälert ihn kaum und schon gar nicht die starke Aussage. Dafür ist die Besetzung schlicht zu stark, die Bilder zu brillant und die Geschichte zu berührend. Ein Film, der noch sehr lange nachwirkt. 

 

Mit «Sieben Minuten nach Mitternacht» gelingt ein exzellenter Film über Trauer und das Leben an sich. Hervorragend; das Trio aus Weaver, Jones und Lewis MacDougal. Unverständlich ist dagegen, dass der Film bei uns so sehr vergessen wurde, er ist nahe an einem Meisterwerk. 

  • Sieben Minuten nach Mitternacht (UK/Spanien/USA 2016)
  • Regie: J.A. Bayona
  • Drehbuch: Patrick Ness (hat auch den Roman geschrieben)
  • Darsteller: Lewis MacDougal, Felicity Jones, Sigourney Weaver, Liam Neeson
  • Laufzeit: ca. 109 Minuten
  • Im Handel: ab 12. Oktober 2017 

 

Patrick Holenstein / Mi, 11. Okt 2017