Enjoy The Silence oder technische Probleme?
Depeche-Mode-Konzerte haben alle diesen einen Punkt, jenen Moment, in dem alle Dämme brechen, keiner mehr sitzt, das Stadion zum Tollhaus und die Bühne zum Wellenbrecher wird. Der Moment heisst «Enjoy The Silence» und ist einer grössten Hits der englischen New-Wave-Legenden. In Zürich kommt dieser Moment und entfaltet seine volle Kraft. Das Stadion wird zum Chor, die Hände zum Teppich vor der Bühne und dann wird es plötzlich still. Technisches Problem oder gewollte Inszenierung der genussvollen Stille? Jedenfalls verstummen Depeche Mode für kurze Zeit fast komplett und Minuten später setzt der satte Sound so schlagartig wieder ein, dass man direkt überrascht ist. Vielleicht ist das aber auch nur künstlerische Freiheit, denn Depeche Mode interpretieren ihre Songs teils sehr frei. Etwa mit einem schleppenden Intro bei «Personal Jesus» oder der Wahl für den Goldfrapp-Remix von «Halo».
«Walking In My Shoes» lanciert das Konzert so richtig
Knapp eineinhalb Stunden vorher betritt die Band, die das Label Kult wirklich verdient und die inzwischen locker drei bis vier Generationen auf Konzerten versammelt, die Bühne und legt mit «Welcome To My World» gewohnt rhythmisch dicht und düster los. Sänger Dave Gahan trägt schwarze Kleidung und wird einen Song später kontrastierend in ein dämonisches Rot getaucht. Die Könige des melancholisch-düsteren Rocks wirken von Anfang an sehr frisch. Besonders Dave Gahans Stimme ist stark, gefestigt und charismatisch. Mit «Walking In My Shoes» ist das Konzert so richtig lanciert und die Leute toben, Hände segeln in die Luft und ein Chor aus den Menschen im fast ausverkauften Stadion singt zusammen mit Gahan. «Precious» unterstreicht im übertragenen Sinn direkt danach die Wertschätzung der Band gegenüber dem Publikum, denn die Musiker sind bestens aufgelegt und zeigen sich begeisternd wie schon lange nicht mehr.
Depeche Mode schätzen ihr Publikum sicher, denn Dave singt mit den Leuten, tanzt vital auf der Bühne. Da steht ein Mann, der vor Jahren beinahe an Drogen gestorben wäre und heute gesund und munter scheint und den das Publikum förmlich trägt. Und sie sind alle da. Der Fan, der die Band seit Ewigkeiten, seit der ersten Stunde quasi, begleitet, aber beim rhythmischen Gezappel kaum im Takt bleiben kann. Die blutjungen Frauen, die sich nach jedem Song beseelt in die Arme fallen, aber auch der Genießer, der zusammen mit Ehefrau und Sohn genüsslich ins emotionale Bad eintaucht, dass Depeche Mode an diesem Abend einlassen. Wenn man an diesem Freitag in die Gesichter schaut, strahlen sie alle, die Menschen feiern Klassiker wie «Policy Of Truth» und haben mit «Just Can’t Get Enough» eine gute Zeit.
Depeche Mode sind sehr gut aufgelegt.
Um auf die Eingangsfrage zurück zu kommen: Depeche Mode sind noch immer gut. Vielleicht sogar wie ein feiner Rotwein, sie werden mit der Zeit besser. Der Sound ist treibend und wuchtig, Dave Gahan singt sich in Ekstase und Andrew Fletscher liefert dazu Soundfragmente aus dem Keyboard. Live wird das Trio von einem Schlagzeuger und einem zweiten Keyboarder unterstützt. Sogar der fix eingeplante Gesang von Mastermind und Hauptsongschreiber Martin Gore klingt annehmbar. Das braucht er, das gehört halt dazu. Natürlich sind Konzerte immer subjektiv. Für mich ist es das sechste Konzert von Depeche Mode und gleichzeitig auch das beste. Irgendwie gelingt es der Band, sich auf der aktuellen Tour zu steigern, deutlich mehr zu variieren und neues Blut in das Konstrukt Depeche Mode zu bringen. Dass sie sich neu erfinden kann man zwar nicht sagen, aber für die Zukunft legt dieses Konzert die Erwartungen hoch.
Bildquelle: Sony Music / DM live in Wien by Markus Nass