Cineastische Metal-Oper

Konzertkritik: Dream Theater im Kongresshaus
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usgang.ch / © Christoph Gurtner

«Endlich. Endlich dürfen wir stehen.» Das dürften sich am 23. März um ca. 22.30 so einige Besucher des Zürcher Kongresshauses gedacht haben.

 

Wie? Einer Metal-Band im Sitzen zuhören? Wahrscheinlich geht das tatsächlich nur bei Dream Theater. Die Progressive-Metal-Helden sind bekannt für ihre speziellen Konzerte. Über drei Stunden durchspielen? Als Zugabe ein komplettes Album einer anderen Band spielen? Alles kein Problem. 

 

Dieses Mal fällt das Konzert verhältnismässig kurz aus. Dafür eben bestuhlt. Was eigentlich auch einen viel würdigeren, einen der Band angemesseren Rahmen gibt, als wenn alle durcheinanderrennen, miteinander sprechen und sich gegenseitig Bier über das Shirt kippen würden. Trotzdem dürfte es den ein oder anderen nur mit Mühe auf dem Stuhl gehalten haben. Nicht nur, weil einem irgendwann das Hinterteil weh tut, sondern weil man am liebsten einfach nur aufspringen, jubeln und mitsingen würde. 

 

Eigens animierte Film-Sequenzen 

 

Über die Setlist ist ausnahmsweise jeder im Bilde. Die Amerikaner spielen nämlich ihr aktuelles Album in voller Länge. Das macht Sinn, denn «The Astonishing» ist ein Konzeptalbum (das zweite der Band) und erzählt somit eine Geschichte, die nur in einer gewissen Reihenfolge und Dramaturgie Sinn ergibt. Letztere wird besonders durch eigens dafür animierte Film-Sequenzen auf hohen Displays, und grosse Gesten unterstrichen. Somit ist ein Dream Theater-Konzert aktuell nicht nur ein Hör-, sondern auch ein Seh-Erlebnis. Man muss mit allen Sinnen dabei sein, um die vielen harmonischen Wechsel, die eingespielten Hörspiel-Szenen und die Story als solche zu begreifen.

 

Die Geschichte selbst ist schnell erzählt. Im Jahr 2285 (Bemerkung am Rande: 300 Jahre nach der Gründung von Dream Theater) herrscht Lord Nafaryus und mit ihm Musikverbot. Nur die sogenannten «Noise Machines» - fliegende Roboter-Kugeln - verbreiten ein undefinierbares, sehr mechanisches und äusserst nerviges Geräusch. Aber jede Geschichte hat einen Helden. In diesem Fall Gabriel aus dem Dorf Ravenskill, der im wahrsten Sinn des Wortes gegen das Regime die Stimme erhebt.

 

Durch sein grosses Stimm-Volumen schafft es Sänger James LaBrie, den Figuren Leben einzuhauchen. Viel mehr eigentlich, als es die animierten Bilder tun, die zwar schön anzuschauen sind, denen jedoch leider jeglicher Ausdruck fehlt. 

 

Keyboard dreht sich in alle Richtungen 

 

So sitzt man also da auf seinem Stuhl, der Hintern schmerzt, und man kommt aus dem Staunen nicht mehr raus. Jeder Ton, den die Musiker spielen beziehungsweise singen, sitzt. Es klingt genau wie auf der Platte und doch viel stärker. Und wenn John Petrucci seine Soli schmettert, ist man regelrecht gefesselt. Leider kommt dies viel zu wenig vor, was in diesem Fall dem Album anzukreiden ist. Dafür kommt man umso öfter in den Genuss des Keyboard-Spiels von Jordan Rudess. Die Melodien und Klänge, die er dem in alle Richtungen drehbaren Instrument entlockt, sind kitschig, schön, und passen perfekt zur Stimmung, die einem die Geschichte vermittelt. 

 

Die Pause nach den ersten eineinhalb Stunden reisst etwas abrupt aus dem musikgewordenen Tagtraum, ist aber nötig. Und schliesslich ist das Album an sich auch ein Zwei-Teiler.

 

Rigoroses Handy-Verbot 

 

Das Album-Konzept wird rigoros durchgesetzt, und so ist auch die Zugabe eigentlich keine Zugabe, sondern einfach der Epilog von «Astonishing». Ab hier, beziehungsweise ab den letzen Songs «Hymn of a Thousand Voices» und «Our New World», darf das Publikum nun endlich aufstehen. Einige Anhänger rennen zum Schluss sogar vor die Bühne, um einen Handschlag von einem der Musiker zu erhalten. Diese bedanken sich artig, und verlassen dann endgültig die Bühne. Dream Theater war noch nie für grosse Interaktion mit dem Publikum bekannt. Und hier erst recht nicht, denn es geht nicht um James LaBrie, John Petrucci, John Myung, Jordan Rudess und Mike Mangini, sondern um Nafaryus, Gabriel und ihre dystopische Welt. Um beim Konzept zu bleiben.

 

Zum Konzept gehört wohl auch ein rigoroses Handy-Verbot während des Konzerts. Foto- oder gar Videoaufnahmen sind daher inexistent - es bleibt nur die Erinnerung. Und das Gefühl, sich mal wieder komplett auf eine Show konzentriert, und diese zu 100 Prozent mit den eigenen Augen gesehen zu haben. Und hey, es funktioniert!

 

Dream Theater zeigten einmal mehr, dass Metal auch anders geht - sinnlich, vielfältig und technisch höchst anspruchsvoll.

 

 

Seraina Schöpfer / Do, 24. Mär 2016