Das heilige Dorf im Sittertobel

Festivalkritik: Openair St. Gallen
Bildquelle: 
Bäckstage / © Seraina Thuma

Die Erwartungen an das diesjährige Openair St.Gallen waren wahrscheinlich noch höher, als das Niederschlagsrisiko am Tag des Festivalauftakts – schliesslich war es die 40. Ausgabe, das muss etwas Spezielles werden! Hunderte Festivalpilgerinnen und –pilger fanden dann auch den Weg ins Sittertobel, stellten sich am Donnerstagmorgen geduldig in den Wartebereich und richteten sich ihren Platz ein, an dem sie die nächsten 10 Stunden noch verweilen mussten. Trotz grosszügigem Regenguss von Petrus wurde den bevorstehenden Tagen entgegengefiebert: Pavillons wurden aufgeschlagen, Getränke und Essen hervorgenommen und die in Regenpelerinen bekleideten Besucherinnen und Besucher liessen sich auf den mitgebrachten Campingstühlen nieder. In der Luft lagen eine entspannte Atmosphäre und der Geruch nach Bier, Würsten und Regen. Neben mir wurden die Musikböxli eingeschaltet, jemand packte seine Gitarre aus und stimmte mit einigen Leuten spontan «Lemon Tree» von Fool’s Garden an. So verweilte auch unser Trüppchen inmitten der Menschenmenge, bis das heilige Dorf bei Sonnenschein um 16.45 Uhr seine Pforten öffnete.

 

Die glücklichen Besitzer von Nachtschwärmer-Tickets stürmten auf das Festivalgelände und ergatterten sich den bestmöglichen Platz für die darauffolgenden Tage. Wo vorher grüne Wiesenflächen zu sehen waren, weilten nach wenigen Stunden kleinere und grössere Zelte und ein weisses Meer aus Pavillondächer entstand allmählich. Willkommen am Openair St.Gallen!

 

Verschlammte Schuhe brauchen auch mal Entspannung. Verschlammte Schuhe beim Trocknen. (Foto: Seraina Thuma) 

 

So bunt gemischt wie die Regenmäntel und Gummistiefel der Festivalbesucher, war der erste Abend im Sittertobel: es spielte die fünfköpfige Alternativrockband Nothing but Thieves, gefolgt von der Hamburger HipHop und Pop-Gruppe Fettes Brot. Die Brote lockten eine enorme Menschenmasse unter und vor das Zelt der Sternenbühne. Wer keinen Platz mehr fand, pflanzte sich weiter entfernt auf den Hang und genoss die Musik von dort. Den Donnerstagabend beendete Gramatik, ein slowenischer DJ aus den Vereinigten Staaten. 

 

Hier jemand mit Wasserpistole, da feuert jemand Wasserballons durch die Gegend, Mädchen mit Blumen in den Haaren und Jungs mit Sneakers – das Openair St.Gallen im Sonnenschein und die Besucherinnen und Besucher in kurzen Hosen, Shirts und Sonnenbrillen. Man traf auf einen anderen Anblick als noch am Donnerstag, wenn man am Freitag ins Tobel kam. Bei prallem Sonnenschein eröffneten die sympathischen Lokalmatadoren von Panda Lux die Sitterbühne. Welch tolles Eröffnungskonzert – das muss man den Vieren lassen. Mit viel Euphorie war vor allem der vordere Teil des Publikums mit dabei und es war erstaunlich mit anzusehen, wie sich der Platz vor der Sitterbühne immer mehr füllte. Sie begeisterten Jung und Alt, animierten das ganze Publikum mitzutanzen und zu singen und klatschten zu guter Letzt die inzwischen weltbekannte, isländische Klatsch-Choreographie mit dem «Huh!»-Ruf. Bei ihrem bekanntesten Song «Oben» hörte man dann nicht nur die Stimmen der Bandmitglieder – nein, es wurde jetzt auch im hinteren Teil mitgesungen. Die Eröffnung der Sitterbühne war definitiv gelungen und die Freude darüber stand den Ostschweizern vom Bodensee deutlich ins Gesicht geschrieben.

 

Fotos: Seraina Thuma

 

Auf der Hauptbühne folgte die Alternativ-Rockband Wolf Alice und um 19 Uhr war es für die Years+Years-Anhänger endlich soweit und die Jungs aus Grossbritannien betraten die Stage. Ein Gänsehautmoment gab es trotz heissen Temperaturen beim Song «Eyes Shut», den Frontman Olly am Klavier performte. Es war beinahe unglaublich, wie er seine Freude auf seine Fans übertagen konnte, sein Tanzstil das Publikum ansteckte und auch die hinterletzten Reihen mit seiner guten Laune mitriss. Ordentlich getanzt wurde vor der Sitterbühne zu den beiden letzten Songs «Desire» und «King».

 

Das Line-up am Freitagabend ergänzten unter anderem die Berner Patent Ochsner, der deutsche Rapper Casper, der bereits vor 2 Jahren auf der Sitterbühne performte und für einen exklusiven Gig in die Ostschweiz zurückkehrte, sowie Deichkind. Die skurille HipHop- / Elektropunk-Gruppe aus Hamburg verabschiedete sich als letzte Band auf der Hauptbühne von den Einwohnern des OASG-Dorfes. Ans Schlafen dachte jedoch noch niemand. Die Menschenmenge strömte zum Foodcorner, vor den sanitären Anlagen bildeten sich ellenlange Schlangen und die Partyzelte füllten sich im Nu. Und ja, im Sittertobel geht’s nicht nur um die Musik, sondern auch ums Feiern, um’s Zusammensein, um’s Geniessen.

 

 Bild 1 und 2: Man trotzt gemeinsam dem nass-kühlen Wetter. (Mit Maus über Bild fahren. / Fotos: Seraina Thuma)

 

Am Samstag strömten die letzten Nachzügler der OASG-Familie ins Sittertobel. Gummistiefel wurden wieder montiert und die Regenjacken erfüllten ihren Zweck aufs Neue. Als Joris um knapp 15 Uhr seine «Herz-über-Kopf»-Show ablieferte, schüttete es vom Himmel und es schien nicht mehr aufhören zu wollen. Wir machten es uns im Mediencorner gemütlich und schauten seine Show auf dem Bildschirm. Die Leute vor der Bühne schien aber der Regen nur wenig zu stören, was für einen eingefleischten Openair-St.Gallen-Gänger total verständlich ist: die Stimmung vor und um die Bühne ist unvergleichlich, es ist einfach ein tolles Gefühl mit so vielen Leuten aus demselben Grund hier zu sein. Auch die Jungs von Annenmaykantereit lieferten eine makellose Show ab. Die drei waren im vergangenen Jahr bereits ein «must see» für einige Festivalbesucher. Dieses Jahr dürften sie wohl noch mehr Anhänger gefunden haben. Kein Wunder: sie überzeugen zweifellos durch die Ruhe ihrer Musik und die Kraft in den Texten und darum spielten sie erstmals auf der grösseren Sitterbühne. 

 

Weniger überzeugend war das diesjährige Aushängeschild: Radiohead. Bis zu einer Stunde vor ihrem Auftritt platzierten sich diverse Besucherinnen und Besucher vor der Sitterbühne und warteten geduldig, bis es endlich 22.45 Uhr war und die Truppe ihren Auftritt begann. Mehr und mehr füllte sich der Platz und es war beinahe unmöglich, sich auf den eigentlichen Gehwegen fortzubewegen. Knapp eine Stunde später sah das Ganze wieder anders aus. Die Show war zwar noch in vollem Gang, jedoch liess der freigewordene Raum auch Platz für Spekulationen auf unerfüllte Erwartungen. Ich habe bisher noch nie erlebt, dass auffallend viele Leute beim Headliner einen Abgang machen. Was war wohl der Grund dafür? Zu hohe Erwartungen? Zu wenig Engagement der Band? Wahrscheinlich von allem ein bisschen. Aber enttäuschte Besucher am Openair St.Gallen? Da muss doch noch was geboten werden. Das Einzige, was noch kam, war ein riesengrosses und lautes Feuerwerk. Ein Augenschmaus. Aber ob das die Enttäuschung ein bisschen vergessen lassen konnte?

 

Gummistiefel und Schirm (Bild 2) waren wertvolle Begleiter an der Jubiläumsausgabe des Festivals. (Fotos: Seraina Thuma)

 

Mal alles vergessen konnte man problemlos beim Gig der Sunset Sons am Sonntagnachmittag. Das Publikum vor der Sternenbühne war voller Euphorie als die Jungs die Bühne betraten. Die meisten dürften sie wohl von vergangener Touren mit Imagine Dragons und Black Sabbath kennen, bei denen die vier als Supportact dabei waren. Kurzerhand beschloss Leadsänger Rory Williams einen Song inmitten dem Publikum zu performen und hüpfte daraufhin lockerflockig wieder auf die Bühne. So locker wie die drauf waren, war auch die Stimmung im Festivaldorf. Ein Lachen hier, ein Herumhüpfen dort. Singen, Tanzen, Schlammschlachten – man liess nichts aus. Schliesslich wussten alle, dass es wieder ein ganzes Jahr dauern wird, bis sich das Spektakel hier unten wiederholen wird. 

 

Nach Sunset Sons war Tom Odell, der kurzfristig für Jess Glynne, die ihren Gig absagen musste, einsprang, ein weiterer erfreuender Programmpunkt am Sonntag. Die helle Stimme und sein Talent am Klavier zog die Menschenmenge in den Bann und ein wunderschöner Kollektivgesang erklang an diesem Nachmittag unter dem Zelt der Sternenbühne. 

 

Ob gutes Wetter (Bild 1) oder schlechtes (Bild 2), das St. Galler Publikum feiert die Bands. (Fotos: Seraina Thuma) 

 

Den krönende Abschluss des 40. Openair St. Gallen bildete Mumford & Sons. Was gibt es Schöneres als genau beobachten zu können, wie die Stimmung auf einem Open-Air-Festivalgelände überkocht? Das Quartett wurde ganz schön gefeiert – zu Recht, denn sie bewiesen ganz klar, dass sie auch mit neuen Songs begeistern können. Am letzten Abend schien alles zu passen, was grösstenteils dem Leadsänger Marcus Mumford mit seiner gewaltigen Stimme zu verdanken war. Der Weltstar scheint weder Lampenfieber noch Berührungsängste zu haben. So scheute er sich nicht vor einer Runde durch die Menschenmasse, klatschte seinen Zuhörerinnen und Zuhörern ab und tanzt mit der Menge um die Wette. Als die Jungs nach dem fast schon traditionellen «Huh!»-Ruf mit Klatschchoreo und einer Sittertobel-Welle zur Zugabe ansetzten und einen der bekanntesten Songs «I will wait» anstimmten, war keiner mehr zu halten. So sang das Sittertobel den Songtext mit ihnen in den Sommerhimmel hinein und verabschiedete die Briten mit ausgiebigem Applaus.

 

Ein letztes Mal Schlange stehen vor den Toiletten, ein letztes Mal ein Openair-Bier, ein letztes Mal durch den Schlamm stapfen, ein letztes Mal ein typisches OASG-Schnitzelbrot mampfen … Wehmut machte sich breit, als sich die Jubiläumsausgabe des Openair St. Gallen langsam dem Ende näherte und die Scharen aus allen Ecken wieder davonzogen. Zurück blieb ein ausgestorbenes, schlammiges, aber immer noch heiliges Dorf in der Ostschweiz. 

 

Auf bald, geliebtes OASG!

 

Rahel Inauen / Mi, 06. Jul 2016