Vom Leben und Hoffen in Paris

Ein nervös wirkender Mann sitzt in einem Wartezimmer, fummelt am Ärmel seines weissen Hemds, wo ein blutroter Fleck leuchtet. Der Mann wird aufgerufen und folgt einer Frau in ein Büro. Schnitt. Der gleiche Mann sitzt auf dem Fahrrad, fährt durch die Gassen und erzählt aus dem Off seine Geschichte. Sein Name ist Souleymane, aus Guinea geflüchtet, illegal in Paris als Fahrradkurier unterwegs, gleichzeitig aber auf Asyl hoffend. Damit er seine Fahrten abrechnen kann, vermietet ihm ein Freund sein Konto - für 120 Euro die Woche. Der junge Mann mit Jahrgang 1999 ist ständig irgendwo in der Schwebe, arbeiten dürfte er nicht, hetzt aber trotzdem von Auftrag zu Auftrag und jede verlorene Sekunde bedeutet den Verlust von dringend benötigtem Geld. Trotzdem weiss er nicht, was die Zukunft bringt und ob er in Frankreich bleiben kann, nicht einmal, ob er einen Schlafplatz für die Nacht hat. Dazwischen jongliert Souleymane mit Geldsorgen, unfreundlichen Chefs in Restaurants, fehlender Privatsphäre in der Obdachlosenunterkunft und den Sorgen um die Lieben, speziell der kranken Mutter, in der Heimat. Und es drängt ein wichtiger Termin beim OFPRA (Amt zum Schutz von Flüchtlingen und Staatenlosen), wo sein Asylantrag beurteilt wird.
Keine guten Karten
Souleymane trifft bei seiner täglichen Odyssee durch die kühlen Strassen von Paris immer wieder auf Menschen, die Asylbewerber schlecht behandeln und sie finanziell ausnutzen. Rechte hat er kaum, wehren kann er sich nicht. Nur ein Mann, der Asylbewerbern durch den Aufnahmeprozess hilft, unterstützt ihn. Jedenfalls vordergründig, denn auch es will nur Geld und geht den leichtesten Weg. So einfach bringt Souleymane aber nichts aus der Bahn, zu viel hat auf der Flucht erlebt. Weil er aus Armut nach Frankreich geflüchtet ist, hat er jedoch keine guten Karten auf positiven Asylbescheid. Also wird ihm empfohlen, seine Geschichte auszuschmücken, etwas von politischer Verfolgung, Folter, Gefängnis zu erzählen und sich diese Geschichte sehr gut einzuprägen. Bei allen täglichen Herausforderungen wird rasch klar, Souleymane ist ein positiver Mensch, der aus der schwierigen Lage das Beste machen möchte. Vielleicht ist das die einzige Herangehensweise in seiner Situation.
Souleymane ist mit seinem Fahrrad in den Strassen von Paris unterwegs. (©trigon-film.org)
Der eindrückliche Film gestattet einen kurzen Blick in das Leben eines Asylbewerbers in Paris. Regisseur Boris Lojkine leiht uns dafür seine Augen bzw. zeigt seine Erfahrungen und das tut er fern jeglicher Wertung. Viel lieber nutzt er ruhige, farblich dunkle Bilder und eine realistische Erzählweise, um uns zu zeigen, was Souleymane erlebt. Was wir damit machen, überlässt Lojkine ganz bewusst im Dunkel des Kinosaals. Sein dokumentarisch anmutender Stil ist ganz bewusst gewählt. Konsequent zeigt der Film ein Paris abseits der Postkartenidylle, ein Paris der Sozialbauten und Notunterkünfte, eine Stadt, in der jeder Polizist als Bedrohung empfunden wird und in der das Recht des Stärkeren zu gelten scheint.
Das Bild der Fahrradkuriere klebte hartnäckig im Kopf des Regisseurs und so hat er mit ihnen viele Gespräch geführt, ihre Geschichten angehört und sich ein Bild gemacht. Oft war dabei das Thema Papiere elementar. «Bei all diesen Schilderungen stand das Thema Papiere klar im Vordergrund. Besonders deutlich wurde dies bei den Guineern. Fast alle waren oder sind Asylbewerber, und der Antrag beschäftigt sie ständig, denn ein positiver Bescheid verändert ihr Leben grundlegend», führt der Regisseur aus. Es sei zudem nicht das grösste Drama der Velokurier, wenn ihr Fahrrad gestohlen werde, erklärt Boris Lojkine weiter und erläutert: «Das Drama liegt im Scheitern bei der Anhörung im Asylverfahren.» Dies Anhörung ist im Film zentral, steuert doch Suleymanes Geschichte zielstrebig auf das Gespräch hin.
Über Monate hinweg intensiv geprobt
Lojkines Film steht auf den starken Schultern von Hauptdarsteller Abou Sangare, der mit einem ausdrucksstarken und gebührend zurückhaltenden Spiel eine bemerkenswerte Intention erreicht. Sangare ist schauspielerischer Laie, kennt die Geschichte aber aus persönlicher Erfahrung. Er kam einst als Minderjähriger nach Frankreich, allerdings ist er Mechaniker, nicht Kurier. Über Monat hinweg wurde intensiv geprobt, schliesslich ist Abou Sangare in jeder Szene des Films zu sehen und trägt eine grosse Verantwortung. Die Arbeit hat sich gelohnt, denn wenn Souleymane beispielsweise von einem Typen die Treppe heruntergeschubst wird, mit blutigem Gesicht am Boden kauert und für einen Moment die volle Last seiner Geschichte und dem täglichen Stress auf ihn einbricht, drückt das Sangare so glaubwürdig aus, als würden wir einer Doku zuschauen.
Die Gespräche mit einem Freund in der Notunterkunft bedeutet Souleymane viel. (©trigon-film.org)
Vielleicht ist das gar nicht so abwegig, denn Boris Lojkine hat mit Dokumentationen angefangen. Nach der Universität ging er nach Vietnam und widmete seine beiden Dokus «Ceux qui restent» (2001) und «Les Âmes errantes» (2005) der Trauer von Vietnamesinnen und Vietnamesen, die den Krieg hautnah erfahren haben. Soziale Themen scheinen dem Regisseur generell wichtig zu sein. In «Hope» (2014) erzählte er später von der Reise von Migrantinnen und Migranten und dreht mit Laien an Orten, durch die sie ihre Reise geführt hatte. Der Film erhielt einige Auszeichnungen. «Camille» (2019) feierte am Filmfestival Locarno Premiere und bekam den Publikumspreis. Der dritte Spielfilm «L’Histoire de Souleymane» feierte 2024 in Cannes Weltpremiere, in der Sektion «Un Certain Regard». Zudem gewann er den Preis der grossen Jury und Abou Sangare wurde als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet.
Schonunglose Einladung in ein fremdes Leben
Das Faszinierende ist aber die schonungslose Einladung in ein fremdes Leben, der Einblick in das Asylsystem Frankreichs und den damit verbundenen Anforderungen. «Filmemachen hat für mich immer bedeutet, mich in andere Leben als in mein eigenes hineinzuversetzen und den Zuschreibungen zu entkommen, die besagten, wie ich sein sollte und was ich zu erzählen hatte», erzählt Regisseur Lojkine. Die Migration ist vermutlich eines der weltweit meistdiskutierten Themen in der aktuellen Zeit. Natürlich ist Souleymane nur ein Einzelschicksal, eine Momentaufnahme, und lässt keinen Rückschluss auf die vollständige Situation zu. Dieser flüchtige Einblick zeigt aber, dass bei aller Kritik auch Menschen mit Ängsten und Hoffnungen betroffen sind. Alle Männer, die Souleyman begegnen sind irgendwie mit dem französischen Asylsystem verbunden. Manche stecken mitten im Prozess, andere haben schon Absagen oder den Asylstatus bekommen. Es sind Menschen mit Ecken und Kanten, mit Problemen und Ängsten, Individuen, die einfach nur in Ruhe leben wollen. Am Ende ist das eine Stärke des Films, etwas Farbe in eine Diskussion zu bringen, die viel zu oft nur in Schwarz und Weiss geführt wird. Zudem ist der Film nie wertend, bezieht in keiner Sekunde Position, schon gar nicht politisch. Boris Lojkine zeigt Menschen und streift dabei unbequeme Themen, die vielleicht eine Zeitlang in unserem Kopf rotieren. Mehr will «L’Historie de Souleymane» nie, aber das genügt vollkommen.
Boris Lojkine dirigiert seine Hauptfigur durch ein kühles Paris voller Herausforderungen und zeigt dadurch eine realistische, glaubhafte Geschichte, die nie kalt lässt, weil der Film völlig auf Wertungen verzichtet und schlicht den Scheinwerfer auf ein menschliches Schicksal richtet.
- L’Histoire de Souleymane (Fra. 2024)
- Regie: Boris Lojkine
- Drehbuch: Boris Lojkine, Delphine Agut
- Besetzung: Abou Sangare Alpha Oumar Sow Younoussa Diallo Ghislain Mahan Yaya Diallo
- Laufzeit: ca. 93 Minuten
- Kinostart: 17. Januar 2025