Gemeinsam gegeneinander

In einer kriegsgebeutelten USA der Sechziger entsenden alle fünfzig Staaten jährlich einen per Lotterie ausgewählten, jungen Repräsentanten, um an einem Todesmarsch teilzunehmen. Dem unglücklichen Gewinner winken unendliche Reichtümer und eine Wunscherfüllung seiner Wahl. Sobald sich der schwerbewachte Tross in Bewegung setzt, wird jeder Teilnehmer abgeknallt, der dreimal wegen zu langsamen Gehens verwarnt worden ist. Es gibt weder Gnade, noch Pausen, noch eine Ziellinie; der Marsch endet erst, wenn der Zweitletzte erschossen wurde.
Der Film basiert auf Stephen Kings erstem fertiggestellten Manuskript, das heute getrost als Bindeglied zwischen «Der Herr der Fliegen» und der «Pute von Panem» einsortiert werden kann. Als Teenager verarbeitete King seinen Frust über den Vietnamkrieg. Das Streben junger Männer, sich der Welt zu beweisen, wurde dazu missbraucht, sie in einem zuletzt sinnlosen Krieg dem Profit zuliebe zu verheizen. Veröffentlicht wurde das Buch 1979, unter dem Pseudonym Richard Bachman. Just in jener Zeit, als uns der liebe Neoliberalismus durch Ronald und Maggie unter eifriger Beratung durch Ökonom und Menschenfreund Milton Friedman aufgebürdet wurde. Es wirkt wie perfektes Timing, dass die Verfilmung gerade jetzt erfolgt ist – nun, da sich diese Ideologie als eine der verheerendsten der Menschheitsgeschichte herausgestellt hat. Spätkapitalismus, wie manche zurecht spotten. Aber dazu später.
«Der lange, etwas holprige Marsch»
«The Long Walk – Der Todesmarsch» ist ein aufwühlendes Kinoerlebnis. Die Hauptdarsteller, Cooper Hoffman und David Jonsson, leuchten bei jeder Interaktion, wogegen der sonnenbebrillte Mark Hamill leider zur Karikatur verkommt – wenngleich nicht gänzlich ungewollt. Man wähnt sich mitten unter den Marschierenden, und der Verzicht auf Green Screen hat teils herrliche Lichtspiele hervorgebracht. Auch wenn fast sämtliche Siedlungen geradezu holprig inszeniert wirken. Natürlich kann die Laufzeit (Wortspiel beabsichtigt) nur auf eine begrenzte Anzahl von Figuren näher eingehen, deren Motive für die Teilnahme nach und nach enthüllt werden. Einige sind herzzerreissend, manche erweisen sich als profund düster, und von anderen hätte man gerne mehr gesehen. Klar kommt man bei einer solchen Prämisse nicht um Gewalt herum, aber die zahlreichen Nahaufnahmen von Kopfschüssen wurden so aufgesetzt, dass man stets rechtzeitig wegschauen kann. Wohl ein Zugeständnis vom Regisseur, da Hamill anfänglich von der Brutalität des Drehbuchs schockiert war.
Mit ganz unterschiedlichen Beweggründen, aber gemeinsam unterwegs. (© 2025 Ascot Elite Entertainment. All Rights Reserved.)
Erzählerisch könnte man grundsätzlich drei grosse Kritikpunkte anbringen. Wie kann es sein, dass sich so viele junge Männer enthusiastisch auf den Weg machen, wenn Liveübertragungen seit Jahren zeigen, dass fast alle Teilnehmer elendiglich krepieren werden? Wieso würde man einen Film schauen, dessen Ende so ziemlich vorhersehbar ist? Und warum hat der Film einen derartigen Mangel an Weltenbau? Nun, die im Film gezeigte Welt ist – wie in den «Tributen von Panem» – in Wahrheit die unsere. Das vom Buch abweichende Ende ist tatsächlich keine Offenbarung, aber solide und plausibel genug. Der Weg ist das Ziel. Und des Weiteren arbeitet der Film weniger mit Figuren als mit Repräsentierungen, ähnlich wie etwa «The Banshees of Inisherin».
«Die Leiden der jungen Gen-Z»
Näher betrachtet verhandelt der Film nämlich das verzweifelte Festkrallen an einem dem Untergang geweihten Wirtschaftssystem und den sich dadurch zuspitzenden Generationenkonflikt. Das ist übrigens mitnichten eine Interpretation, denn in einer Szene schreit ein Boomer einer Gruppe Gen-Zer effektiv entgegen, sie solle gefälligst nicht so faul sein und endlich an die Arbeit gehen. Seine entlarvende Wortwahl: «Der Todesmarsch ist die Antwort! Ihr seid die Antwort!» Oder kontemporär ausgedrückt (vorerst noch auf US-amerikanische Verhältnisse gemünzt): Verschuldet euch über beide Ohren für einen Uni-Abschluss, damit ihr nicht bei Mickey D’s schuften müsst. Nur damit ihr nach der Graduierung von künstlicher Intelligenz vom Markt verdrängt werdet. Dann könnt ihr euch vergeblich auf Geisterinserate bewerben, weil ihr aufgrund eurer Überqualifizierung nicht mal bei Mickey D’s eine Anstellung findet. Wundert euch also nicht, dass euch das Geld für Familiengründung oder Hausbau fehlen wird; schliesslich gibt’s ja schon jetzt kaum Wohnungen und sowieso zu viele Menschen. Aber der Karren muss weiterlaufen, Dividenden wollen ausgeschüttet werden. Money, Money, Money. Päng!
Es ist die alte Leier. Jeder kann gewinnen. Wie beim Lotto. Und wie beim Lotto gewinnt am Ende nur ein Einzelner – der hinterher ungelogen ärmer dran ist als zuvor. Wir alle sind auf diesem Marsch. Wir alle sind gezwungen, weiterzulaufen. Alle gegen alle. Keine Gnade, und kein Ende in Sicht. Und dann soll sich bitte noch jemand fragen, warum immer weniger Angehörige der Generation Z unterwegs und strebsam sind, und stattdessen lieber zuhause Videospiele spielen. Manch kontemporäre Kritiker werden lieber auf den paar Unzulänglichkeiten des Films rumreiten, statt auf die Kernbotschaft einzugehen, weil sie immer noch glauben, Neoliberalismus sei Marktwirtschaft. Aber einen Mangel an in den Wind geschlagener Warnungen gab es ja nun wirklich noch nie. Wir werden es wohl auf die noch härtere Tour lernen müssen.
«Zynisch, rabenschwarz, auf den Punkt. Eine inhaltlich gelungen der Zeit angepasste Adaption, deren Umsetzung etwas ausgegorener hätte sein können. Der Film plätschert in wenigen Szenen dahin und leistet sich ein paar Unnötigkeiten, packt jedoch in vielen Momenten knallhart an der Gurgel. Ein Film für und über die Gen-Z, die endlich wieder einen Grund für einen Kinobesuch hat.»
- «The Long Walk – Der Todesmarsch» USA/2025
- Regie: Francis Lawrence
- Darsteller: Cooper Hoffman, David Jonsson, Mark Hamill, Judy Greer, Garrett Wareing, u.v.a.
- Laufzeit: 108 Minuten
- Kinostart: 11. September 2025