Der Sandman breitet sein Reich als Serie aus ...

Serienkritik: The Sandman
Bildquelle: 
Courtesy of Netflix © 2022

Ein hagerer Mann im schwarzen Mantel, der mit einem rüsselartigen Helm, einem glänzenden Rubin und einem Beutel voller Sand sein Unwesen treibt, ist der Held oder je nach Sichtweise auch Antiheld der Comicreihe «Sandman» aus der Feder von Neil Gaiman. Der Brite hat ab Ende der 1980er in 75 Heften und über 2000 Seiten die Geschichte von Dream, dem Herrscher über das Traumland, auch Dreaming genannt, erzählt. Lange galt der sehr philosophische und mosaikartige Stoff als unverfilmbar. Diverse Ansätze scheiterten. Nicht zuletzt, weil der Autor aktiv dagegen gearbeitet hat. Seine Devise war, lieber keine Verfilmung als eine schlechte. Seit Anfang August läuft nun die Serie, bei der Neil Gaiman selbst stark beteiligt war, bei Netflix. Wie sieht der Kult-Comic als Serie aus?

 

Der Inhalt ist schnell erzählt. Der Okkultist Roderick Burgess versucht Anfang des 20. Jahrhunderts den Tod einzufangen, um ihn zu zwingen, seinen im Krieg gefallen Sohn zu retten. Doch es passiert ein Fehler und er erwischt stattdessen Dream, oben erwähnten Herrn der Träume. Dream ist einer von sieben Ewigen. Die Ewigen sind unsterblich, anders als Götter, die verblassen, wenn die Menschen den Glauben an sie verlieren. Neben Dream gehören zu den Ewigen Death (Tod), Destiny (Schicksal), Despair (Verzweiflung), Desire (Sehnsucht/Verlangen), Destruction (Verwüstung/Zerstörung) sowie Delirium (Fieberwahn). Als Dream eingesperrt wird, stiehlt man ihm gleichzeitig seine drei wichtigen Utensilien, den Helm, den Sand und den Rubin. Okkultist Burgess ist dem weiblichen Geschlecht aber sehr angetan und lässt sich von seiner schwangeren Liebhaberin Ethel Cripps die drei Artefakte stehlen.

 

Vom Comic-Mosaik zur Serie.

 

Durch die Gefangenschaft von Dream gerät das Gefüge von Traum und Realität heftig in Schieflage. Menschen können nicht mehr aus Träumen erwachen bzw. nicht einschlafen. So schläft etwa die junge Unity Kincade über Jahrzehnte, gefangen in einem Traum. In dieser Zeit wird sie schwanger und bekommt ein Kind. Dieses Ereignis wird später in der Geschichte wichtig. Als Dream nach mehreren Jahrzehnten freikommt, ist sein Traumreich eine Ruine. Also beginnt er, sein Imperium wieder aufzubauen. Dafür benötigt er die drei gestohlenen magischen Artefakte. Die Suche danach führt ihn wortwörtlich durch die Hölle und schliesst den Kreis zu Ethel Cripps bzw. deren Sohn John, der inzwischen mit dem Rubin, der Menschen beeinflussen kann, viel Unheil anrichtet. Und dann sind da noch Rose Walker, die Ur-Enkelin von Unity Kincade, die unbewusst einen starken Einfluss auf die Traumwelt hat, der Korinther, ein entflohener Albtraum, und Fiddlers Green, ein schöner Traum, der gerne Mensche wäre, die die Wachwelt erkunden. Dream hat also genug zu tun.

 

Der kurze Abriss zum Inhalt zeigt bereits die Krux. Im Comic verbinden sich viele einzelne Handlungsstränge und liebevoll gestaltete Nebenschauplätze zu einem herrlichen Mosaik, deren Roter Faden der titelgebende Sandman ist. Der Serie gelingt ein eleganter Kompromiss, das Mosaik aufgelöst und neu gelegt. Die Geschichten in den Comics wurden von wechselnden Zeichnerinnen und Zeichnern gestaltet. Also mussten sich die Macher der Serie auf eine stilistische Gratwanderung begeben. Diese ist äusserst gut gelungen, orientiert sich an markanten Stilmitteln und die Welten im Traumland sind ideal umgesetzt. Zusätzlich unterstreicht die Kameraarbeit die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit.

 

Dream kehrt nach langer Gefangenschaft in sein heruntergekommenes Reich zurück. (Courtesy of Netflix © 2022)

 

Die Story hält sich so eng es geht an die Comicvorlage, verlässt den Pfad aber im richtigen Moment, um Kleinigkeiten zu ändern. Etwa die feinen Anspielungen auf Batman, die im Comic stattfinden. Oder die Storyline um Lyta Hall und Jed Walker, die neu gemischt wurden und trotzdem Sinn machen. Gerüchte besagen, dass bei manchen Entscheidungen fehlende Rechte mit ein Grund gewesen seien. Letztlich spielen alle diese künstlerischen Freiheiten für die Geschichte aber keine Rolle, die funktioniert bestens. Wichtiger sind die philosophischen Ansätze. So nimmt sich etwa Folge 6 mit dem langen und immens wichtigen Dialog zwischen Dream und Death viel Zeit, um uns die Gedanken von Dream und die Aufgabe der Ewigen (im Original -Endless genannt) näherzubringen und sie so greifbarer zu machen. Immerhin gelang Neil Gaiman mit der Comic-Serie eine nahezu perfekte Mischung aus Fantasy, Mystery, viel Philosophie und Psychologie sowie etwas Zeitgeist und Geschichte. Bis heute gilt der vielfach preisgekrönte Comic als Meilenstein im Genre.

 

Einen kleinen Aufschrei der Fans erzeugte im Vorfeld der Cast. Death, im Comic eine blasse, dürre junge Frau mit klarer Referenz an die 80er und wahrscheinlich auch an Madonna, wurde mit der dunkelhäutigen Kirby Howell-Baptiste besetzt. Aber, Howell-Baptiste ist die perfekte Besetzung und verleiht mit ihrer Interpretation dem Tod geradezu freundliche Aspekte, was dem Geist der Vorlage entspricht. Dazu spielt die Optik bei den Ewigen schlicht keine Rolle, da sie ihre Gestalt bei Bedarf ändern können. Zweitens wurde die Rolle des Höllenfürsten Lucifer Morgenstern mit Gwendoline Christie (Brienne von Tarth in «Game of Thrones») kurzerhand weiblich gemacht. Das passt dann zwar nicht so richtig zur Idee aus den Comics, die immerhin zur Spin off-Serie «Lucifer» geführt hat, aber auch Christie macht einen hervorragenden Job und lässt schnell vergessen, dass ihre Figur in der Vorlage – und im Grunde auch überall sonst - männlich ist. Diese beiden Beispiele zeigen, dass das Team um Neil Gaiman die Comics, die den Geist der 80er atmen, schon stark modernisiert hat, sich die Entscheidungen jedoch als geschickt erweisen. Vermutlich präsentiert die Serie die Story um Sandman so, wie sie Neil Gaiman heute entwerfen würde, gute 30 Jahre und unzählige soziale Veränderungen später. Zudem ist die Serie eine künstlerische Interpretation des Stoffs und dass da Abstriche und Anpassungen nötig sind, dürfte letztlich schon vorher klar gewesen sein.

 

Viel Spass, wenn man sich auf die Traumwelten einlässt.

 

Optisch ist der Serie zweifellos anzusehen, dass sie einiges gekostet hat. Die Traumwelten inklusive des Schlosses von Dream, sind aufwändig modelliert und wirken glaubhaft, die sind Sets üppig gestaltet und so wird die Welt der Comics sehr plastisch und mit Leben gefüllt. Ein Glücksgriff gelang ebenfalls mit Hauptdarsteller Tom Sturridge, der seinen Dream so kalt und trocken spielt, wie er in den Comics agiert. Wenn Sturridge aber manchmal ein Lächeln oder einen gezielten Blick nutzt, um die Gedankenwelt von Morpheus, wie Dream auch genannt wird, anzudeuten, blitzt sein Können als Schauspieler auf. Ebenfalls ein Spass ist das kurze Zusammenspiel zwischen Vanesu Samumyai als Rose Walker und Kult-Schauspieler Stephen Fry als Gilbert im Storybogen zu «Das Puppenhaus». Das Duo harmoniert wunderbar.

 

Ob man die Comics kennt oder nicht, «The Sandman» dürfte für all jene, die Fantasy mit Anspruch mögen, genau das Richtige sein. Auch wenn Kenner der Comic-Vorlage an der einen oder anderen Stelle schon deutlich erkennen, dass Storylines getrennt und neu verknüpft wurden, ist «The Sandman» ein grosser Spass, wenn man sich auf die Traumwelt einlässt. Inzwischen wurde verkündet, dass Netflix dem Traumkönig mindestens eine zweite Staffel spendiert. 

 

Die Erwartungen waren gross und die Serie hält vielen davon mühelos stand. «The Sandman» ist eine würdige Verfilmung eines komplexen Stoffes.

 

  • The Sandman (2022)
  • Drehbuch: David S. Goyer, Neil Gaiman u.a
  • Besetzung: Tom Sturridge, Boyd Holbrook, Patton Oswalt, Vivienne Acheampong, Gwendoline Christie, Charles Dance, Jenna Coleman, David Thewlis, Stephen Fry, Kirby Howell-Baptiste
  • Ab 5. August bei Netflix

 

Bäckstage Redaktion / Do, 11. Aug 2022