Mit Max Richter durch die Nacht

Konzertkritik: Schlafkonzert mit Max Richter
Bildquelle: 
© Mike Mateescu (Handyfoto)

Zehn Uhr

 

Ich erreiche die grauenhafte Betonwelt von Neu-Oerlikon. In der schummrigen Vorhalle des Industrielokals 633 rauscht die Klimaanlage und im Konzertsaal der Strassenverkehr. Das ist bei Max Richter immer so. Von Lichtern geblendet steige ich die Stufen zur Presselounge in der Galerie hoch. Willkommen bei IKEA. Das Unternehmen hat von der Verpflegung bis hin zu den Möbeln die gesamte Ausstattung der Halle gestiftet. Auf zwei weissen Teppichen stehen Couches, Sofas und Schaukelstühle. Am Buffet gibt’s Früchte, Knabbereien, Mineralwasser und Kaffee. Am Geländer der Terrasse ist eine Kamera befestigt. Sie schiesst alle fünf Sekunden ein Bild. 

 

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Unten erstreckt sich ein Meer aus über 50 Betten, wie auf dem Cover von Pink Floyds «Momentary Lapse of Reason». 

 

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Ans andere Ende grenzt eine von blauem Licht umfangene Plattform. 

 

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Auf beiden Seiten der Halle stehen Ballmädchen bereit. 

 

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Neben mir fotografieren Reporter andere Reporter am Grund, die wiederum andere Reporter interviewen. Auf den Betten ruhen Taschen. Sie enthalten braune Latschen, weisse Bademäntel, Augenbinden, eine Bauanleitung fürs jeweilige Modell und persönliche Einladungen. Neben dem Eingang prangt eine Projektion vom Liegeplan mit den Vornamen der Gäste. Sie hatten diese Nacht mit Max Richter gewonnen. Die Teilnahme am Wettbewerb erfolgte beim Stöbern im Schlafzimmerangebot auf IKEAs Webseite. 

 

Elf Uhr

 

Zurück auf der Galerie. 

 

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Etwas mehr als die Hälfte der Betten wurde in Anspruch genommen. Die Leute reden leise, kramen vorsichtig in den Taschen. Die Bekleidungen nehmen ab. Strandstimmung kommt auf. Erst eine Person steckt unter der Decke. Es sind überwiegend Paare gekommen, einige beste Freundinnen und wenige Singles. Am linken Rand tippt ein Mann konzentriert auf seinem Laptop. Ein anderer Mann trägt einen riesigen Rucksack voller Equipment an einer Sanitäterin mit Leuchtstoffweste vorbei. Bettgeflüster. Die Presse spricht weiter mit den Betten. Die Betten untereinander nicht. 

 

Zwanzig vor Zwölf

 

Nun wäre IKEAs Ansprache fällig gewesen. Ein letztes Pärchen schlendert in die Halle. Kurz vor Beginn. Daran erkennt man die wahren Stadtzürcher. Ein Gast zeigt seine Nachtkleidung einem Bekannten. Kurze Hosen und Shirt. 

 

«Ist bedeutend angenehmer.»

 

«Steht dir», lobt der Reporter. 

 

Ich hole Kaffee. Zum zweiten Mal. Bin ja nicht zum Schlafen hier. Und nach Beginn des Konzerts wird die Maschine zuviel Krach machen. 

 

Fünf vor Zwölf

 

IKEA betritt die Plattform und macht Ansage. Ich hätte sie mir älter vorgestellt. Sie erklärt mit Stolz, dass sie das Leben der Menschen besser machen möchte. Auch in der Nacht. Schliesslich würde einer von vier Schweizern mit dem Schlaf hadern. Die Betten werden nach der Aktion Pfarrer Sieber geschenkt. 

 

Meine Kontaktlinsen zwicken. Die Dunkelheit hat sie trocken gemacht. 

 

Mitternacht

 

Richter und seine Musiker schleichen auf die Plattform. Vorsichtiger Applaus. Er flüstert ins Mikrophon, so als wolle er niemanden wecken. «See you on the other side» haucht er. Dann leitet er das Konzert mit einer einfachen Klangabfolge auf dem Piano ein. Erinnerungen an die britische Band Archive werden wach. Richters Musik hat dieselben Tiefen, nicht aber die Abgründe von Archive. Deren Songs können gut und gerne bis zu zwanzig Minuten dauern.

 

Richters Darbietung wird nun acht Stunden spielen. 

 

Wo bei Zürcher Konzerten von Anfang bis Ende ohne Not getratscht wird, herrscht nun absolute Stille. Nur gelegentlich zwitschern Schuhsolen. Zeitlosigkeit macht sich breit. Nach einer halben Stunde setzt ein elektronischer Ton ein, von dem unklar ist, ob er zum Programm gehört. Er wird bald aus der endlosen Klangcollage verblassen, in die mittlerweile Streicher eingesetzt haben. 

 

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Was nun geschieht, lässt sich nicht länger abbilden, sondern bloss noch beschreiben. 

 

Ein Uhr

 

Mir ist, als sässe ich im Innern des schwarzen Monolithen von Stanley Kubricks «2001». Richter ist auch Filmkomponist. Seine Musik erzeugt einen immensen Sog und bleibt dennoch unaufdringlich, ja fast geduldig. Es fühlt sich an wie eine dieser entscheidenden Szenen am Ende eines Films, in der die Hauptfigur eine tiefe Erkenntnis hat. Nur währt dieser Moment fort und fort. 

 

Unten sitzen einige wenige aufrecht und starren in ihre Handys. Die Mehrheit kuschelt. Wer sich bewegt, tut es auf Zehenspitzen. Noch nie habe ich so viele Menschen beim Schlafen beobachtet. Ich setze mich, denn ich habe einen Sitzplatz. An einem Schlafkonzert. 

 

Doch ich könnte gar nicht schlafen. Ich gehöre zu dem Viertel, das keinen Schlaf findet. Richter hat betont, dass die Leute während «Sleep» schlafen sollen. Das glaub ich ihm nur bedingt. Mir ist eher, als hätte er das Programm für Menschen geschrieben, die wachliegen, um ihnen etwas Trost zu spenden. 

 

Es heisst, dass wir im Schlaf unser Innerstes bereisen. Von der Musik eingelullt, tu ich dies mit offenen Augen. Wunden reissen auf. Wenn du soviel erlebt hast, wie ich, dann tun bloss noch zwei Dinge weh. Wenn Menschen weggehen oder aufhören, mit dir zu sprechen. In den letzten drei Jahren habe ich drei meiner besten Freunde verloren. Statt einer Erklärung gab’s nur Ausreden. Es sind solche Dinge, die mich nachts wachhalten. Du fragst dich, was du falsch gemacht hast. Ob du zu weit gegangen bist oder ob du mehr hättest tun sollen. 

 

Zwei Uhr

 

Ich stehe wieder und schaue auf die Menge. Der Mann mit dem Laptop tippt immer noch. Sind wir in der Nacht nicht ohnehin allein? Ich weiss nur, dass ich weniger allein sein möchte. Der Song ist zu Ende und die Kamera am Geländer verschwunden. Ich bin in einer Zone gelandet, in der Dinge auftauchen und verschwinden. Das gilt auch für die Musiker auf der Bühne.

 

Ich hänge meinen Gedanken noch etwas nach, während mich bereits das nächste Stück umgarnt. Doch es ist an der Zeit, loszulassen. Ich nehme Abschied. Dann gehe ich. Hinaus in die leergefegte Betonwüste. 

 

Meine Kontaktlinsen zwicken nicht mehr. 

 

Mike Mateescu / So, 06. Aug 2017