Grosse Emotionen bei Lindsey Stirling

Konzertkritik: Lindsey Stirling
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Archiv-Bild: © Bäckstage.ch

Lindsey Stirling kämpft sichtlich mit den Tränen. Vor eineinhalb Jahren ist ihr Keyboarder und Bester Freund Gavi an Krebs gestorben. Vor zwei Monaten nun auch noch ihr Vater. Sie erzählt, wie sie gelitten hat. Und man sieht es ihr in diesem Moment deutlich an. Sogar im Publikum ist Schniefen zu hören, als Lindsey Stirling von ihrem Verlust erzählt. 

 

Die Musikerin befindet sich gerade auf Tournee mit dem dritten Album «Brave Enough». Es ist ihr bisher persönlichstes Werk, und das bringt sie auch live zum Ausdruck. Sie erzählt viel. Persönliche Geschichten, witzige Anekdoten, charmante Dank-Sagungen. Und trotz allem Wissen, dass sie dies jeden Abend tut, kommt man keine Sekunde auf den Gedanken, dass dies alles nicht so ernst gemeint sein könnte, oder lediglich Routine sei. 

 

Videos holen Gastsänger ins Stadion 

 

Es ist eine gewohnt grosse Show von der Violonistin, ihren Musikern und Tänzern. Auf grosse Panels und Displays werden Videos projiziert, und auf diese Weise bei einzelnen Stücken die Gastsänger ins Stadion geholt. Einen kleinen Teil von «Shatter Me» singt Lindsey Stirling sogar selbst, und das gar nicht mal schlecht. Ihre grossen Talente bleiben aber das Geigen und das Tanzen. Gleichzeitig, um das gleich klar zu stellen. Der Gedanke «Wie geht das überhaupt?» geht einem den ganzen Abend nicht aus dem Kopf.

 

«Die Leute haben den Kopf geschüttelt, als ich ihnen sagte, dass ich eine tanzende Violinistin sein will», sagt die Amerikanerin dannn auch selbst. «Ich war sogar bei «America’s Got Talent». Sie sagten mir, ich klinge wie ertrunkene Ratten, die gerade erwürgt werden.» Sie sagt dies, um den Menschen Mut zu machen, ihre Talente zu zeigen und ihre Träume zu verwirklichen. Und klar ist das irgendwie abgedroschen, und klingt wie frisch ab der Disney-Presse. Aber wieder glaubt man ihr sofort, und würde am liebsten gleich auf die Bühne springen, um der kleinen zierlichen Frau sein Gesangs- oder auch nur sein Ohrenwackel-Talent zeigen. Wahrscheinlich würde sie begeistert klatschen und einen spontan in die Arme schliessen.

 

Grosses Talent zeigen auch Lindsey Stirlings Tänzerinnen, die immer wieder auf der Bühne auftauchen, um den Songs auch visuell eine Geschichte zu geben, und zudem die Lücken füllen, wenn sich Lindsey Stirling hinter der Bühne wieder einmal umzieht. Auf bunte Hotpants folgt ein bauschiges Tutu, darauf ein blaues, halbtransparentes Abendkleid, dann ein glitzerndes Zirkusdirektoren-Outfit, ein orientalisches Bauchtanz-Kostüm und schliesslich ein buntgemusterter Dress, dessen Neon-Anteile im UV-Licht leuchten. Bei «Hold My Heart» wird sogar richtige Illusions-Nummern aufgeführt: Lindsey wird in einer Kiste von ihren Tänzerinnen «zersägt», oder taucht plötzlich (spielend) in einer transparenten Kiste auf. 

 

«Brave Enough» als Grossteil der Setlist 

 

Mit neun Songs nahm «Brave Enough» den Elefanten-Teil der Setlist ein. Der Vorgänger «Shatter Me» wurde hingegen nur mit zwei Titeln bedacht. Da aber das aktuelle Album selbst schon grosse Abwechslung bietet, war auch die Show demensprechende kurzweilig. In der Zugabe ging «Roundtable Rival» in «Let This Feeling Fade» über, und somit vom rockigsten ins hiphoppigste Stück. Ein Paradebeispiel für die grosse Wandelbarkeit, die Lindsey Stirling beherrscht. 

 

Auch witzige Einlagen sorgten für Unterhaltung. Etwa eine Video-Einlage, die das aktuelle Geschehen im Backstage-Bereich simuliert, und für Gelächter im Publikum sorgte. Oder eine musikalische Einlage auf Mini-Instrumenten mit den Melodien von «Morgen kommt der Weihnachtsmann» (das erste Stück, das Lindsey Stirling auf der Geige gelernt hat), «Eye of the Tiger» oder «Pirates of the Caribbean».

 

Bei einem so vielseitigen Act ist es natürlich schwierig, eine passende Support-Band zu finden. An diesem Abend versuchten The Retrosettes ihr Glück. Die selbsternannte «Vintage-Band» aus Birmingham hatte gute Momente, konnte aber nicht ganz überzeugen. Zu wenig Wiedererkennungswert, zu langweilig, trotz guter Stimme (an den Mikrophonen steht ein Ehepaar). Eine Band für im Pub oder im hippen Keller-Club, aber nicht für das Hallenstadion. Erst am Ende wurde das Publikum etwas mitgerissen - dank dem Cover des bekannten «You’ve Got The Love».

 

Ein grandioses Konzert mit grandioser Show von Lindsey Stirling und ihrer Crew. Die grossen (echten!) Emotionen taten ihr Übriges. 

Seraina Schöpfer / So, 19. Mär 2017