Little Hollywood versinkt im Schlamm

Festivalkritik: Openair St. Gallen 2017
Bildquelle: 
Bäckstage / © Seraina Thuma

Genau 362 Tage waren seit der letzten Ausgabe des Openair St.Gallen vergangen, als sich tausende von Leuten wieder auf den Weg ins Sittertobel machten. Die Kapazität im Warteraum unmittelbar vor dem Eingang zum Festivalgelände war bereits am Mittwochmittag gut genutzt und am Donnerstagnachmittag komplett ausgeschöpft. Jeder, der den Hügel hinunter spazierte, wusste, dass die bevorstehenden vier Tage mindestens genauso herrlich werden würden, wie dieses Bild, das sich einem in jenem Moment bot: Sonnenschein, trockenen Wiesen, etliche Pavillons, gemütliche Stimmung, lachende Gesichter. Das mit den trockenen Wiesen sollte zumindest für wenige Stunden anhalten, denn kurz nach Türöffnung, schüttete der liebe Herr da oben einen Teil seines Eimers auf die Ostschweiz hinunter. Im Nu wurden trotzdem die grünen Hänge mit farbigen Zelten und Pavillons übersät und im Stars & Stripes, in der Casa Bacardi und anderen Partyzelten, wurden die ersten Drinks über die Theke gereicht. Das Openair St. Gallem 2017 konnte losgehen.

 

Crimer, Wanda und Alle Farben  

 

Das Programm am Donnerstagabend setzte sich aus Crimer auf der Startrampe, Wanda auf der Sternenbühne und Emanuel Reiter auf der Campfirestage zusammen – um nur einige der bunt durchmischten Acts zu nennen. Zur Geisterstunde, um Mitternacht, wurde die Stimmung unter dem Sternenzelt nochmals richtig in Gang gebracht. Frans Zimmer – besser bekannt unter seinem Künstlernamen Alle Farben – begeisterte mit Deep- und Tech-House Beats, wie zum Beispiel mit dem Song «Little Hollywood». 

 

Wie «Little Hollywood» von St.Gallen fühlte es sich an, als am Freitag der zweite Festivaltag anbrach und zur Freude der Festivalbesucherinnen und –besucher endlich die Main Stage eröffnet wurde. Diese Ehre hatte dieses Jahr die Jas Crw, drei Ostschweizer Musiker mit internationalen Wurzeln. Um 15:30 Uhr durften sie loslegen und die Menge pflanzte sich vor die Sitterbühne. Einige machten es sich eher auf den nahegelegenen Hängen bequem, stellten die Campingstühle im hinteren Bereich auf und schauten das Konzert aus der Ferne. Andere zogen gar vorbei, ohne den Schweizern grosse Beachtung zu schenken. Die Jas Crw lieferte eine coole Show ab und man muss zugeben, dass die Organisatoren des Festivals ein weiteres Mal ein goldenes Händchen für den Eröffnungsact bewiesen haben. Gut eine Stunde durften wir im Sittertobel Rap Sound mit grosser Klasse geniessen.

 

Auf der Sternenbühne folgte drei Stunden später der ursprünglich aus Uganda stammende Michael Kiwanuka. Seinen Musikstil bezeichnet der Brite als Retro-Soul. Luftballone flogen durch das Sternenzelt, es herrschte eine gemütliche Stimmung und der 30-Jährige präsentierte seine gewaltige Stimme. Seine Texte handeln grösstenteils vom Umgang mit Vorurteilen, weil er schwarz ist und Soulmusik macht. Der Mann steckt Geschichten und Gefühl in seine Texte, begleitet von Blues, Folk und einer Riesenportion Soul. Dass seine Musik ebenfalls durch Jazz beeinflusst wird, ist kaum zu überhören. Mal mehr, mal weniger, aber der Jazz fehlt kaum in einem Stück.

 

Bilder: © Seraina Thuma

 

Zeitgleich mit Michael’s Konzertschluss, stimmte George Ezra auf der Hauptbühne die ersten Töne an. Sich einen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen war kaum möglich. Abgesehen von den Hardcore-Schnapsnasen im Stars & Stripes war wohl jeder in der Nähe der Bühne um sich den Auftritt des Engländers anzusehen. Wo um 20:30 Uhr noch blauer Himmel zu sehen war, bedeckten eine halbe Stunde später graue Wolken den Himmel, es begann zu regnen und das Publikum verwandelte sich innert wenigen Minuten in ein Farbenmeer von Plastikponchos und Regenmäntel. Das schlechte Wetter schien die Stimmung jedoch nicht zu beeinflussen. Vor allem zu den Songs «Blame It On Me» und «Budapest» wurde fleissig mitgesungen und die Menge bewegte sich. Für ein bisschen Tanzen ist also im Sittertobel immer irgendwo noch Platz – das gefällt!

 

Ebenfalls auf der Sitterbühne traten nach George Ezra Punkrocker aus Düsseldorf auf: Die Toten Hosen. Für manche ein Highlight, für andere nur ein Act unter vielen. Die Show war ziemlich ähnlich aufgebaut, wie vor einigen Jahren, als die Hosen bereits einmal zu Gast am OASG waren; «Hier kommt Alex», «Bonnie & Clyde», «Tage wie diese» und «Altes Fieber» durften im Set natürlich nicht fehlen. Pyrofakeln wurden gezündet, Fahnen wurden fleissig geschwenkt und manch einer sang sich mit Campino die Kehle beinahe aus dem Hals. Danach soll man die Hosen auf dem Camping-Platz gesehen haben. 

 

Der Freitagabend ging mit musikalischem Mix weiter: Tanz-Rage zu elektronischem Rock von Justice aus Frankreich, Jugendrhymes aufleben lassen war bei der Bündner Band Breitbild angesagt und zu früher Stunde um 3.00 Uhr morgens sorgte der Musikproduzent Alan Walker für ein prall gefülltes Zelt vor der Sternenbühne.

 

 Highlight am Samstag: RAYE 

 

Schlamm, Gestank, tonnenweise Abfall, verdreckte Schuhe, aber blauer Himmel begrüsste einen, wenn man sich am Samstagnachmittag wieder ins Tobel begab oder die Reissverschlüsse des Zeltes so langsam öffnete. Es war für eine kurze Zeit tatsächlich T-Shirt-Wetter. Das war die richtige Zeit, um sich vor die Sternenbühne zu pflanzen und zum Sound von RAYE abzugehen. Die 19-Jährige Londonerin mit Schweizer und Ghanaischen Wurzeln präsentierte sich und ihre Musik mit Passion und Stärke. Keine zwei Minuten vergingen und jeder einzelne war von ihrer Stimme und ihrem Auftritt erkennbar begeistert. Die junge Frau hat bereits mit Charli XCX Songs geschrieben, war 2015 der Supportact von Years & Years und gleich ein Jahr darauf mit Jess Glynne auf Tour. Sie zog während ihrem Auftritt das Publikum mit ein und brachte somit jeden im Zelt zum Mitsingen. Einer, der bekanntesten Songs, bei dem sie ihre Finger im Spiel hatte, ist derzeit Jax Jones‘ Single «You don’t know me», welchen sie zum Schluss ihres Auftrittes performte. Es gab kein Halten mehr; die Menge tanzte und feierte mit der sympathischen Londonerin mit.

 

Das Line-Up am Samstag wurde weiter ergänzt von der Schweizer Band Pegasus, der britischen Indie-Folkband Bear’s Den, Beth Ditto von Gossip, aktuell auf Solo-Pfaden, und Alt-J, eine der angesagtesten Alternativ-Folk-Bands überhaupt. 

 

Regen, Regen, Regen

 

Regen, Regen, Regen – das Wetterprogramm des Festivalsonntags könnte nicht einfacher beschrieben werden. Zum Glück brachte Passenger um kurz nach 14 Uhr ein bisschen Wärme ins Sittertobel. Sein Auftritt mit vierköpfiger Band erwärmte manche Herzen und liess die Besucherinnen und Besucher den Nieselregen für kurze Zeit vergessen. Der Singer-Songwriter performte Stücke seiner älteren Alben, aber stellte auch einige Stücke der neusten Platte «Young as the Morning, Old as the Sea» vor. Ein Cover von Tracy Chapman’s «Fast Car» machte sein Set komplett und er liess mit grosser Dankbarkeit und dem Daumen nach oben ein berührtes Publikum vor der Sitterbühne zurück. Nach Passenger folgte der Auftritt der Neuseeländerin Lorde. Mit ihrem Song «Royals» hat sie 2012 den internationalen Durchbruch geschafft und begeisterte am Sonntagnachmittag Jung und Alt im Sittertobel. Auffällig waren ihre ruckartigen Tanzbewegungen und die roten Schlabberhosen, aber allem voran ihre Wahnsinnsstimme.

 

Nach Lordes Auftritt räumte sich der Platz vor der Sitterbühne wieder und im Foodcorner bildeten sich meterlange Menschenschlangen. Vor den sanitären Anlagen hiess es ebenfalls anstehen und geduldig sein aber die längste aller Schlangen bildete sich allmählich vor dem Ausgang der OASG-Pforten. Zerlegte Zelte, umgeschnallte Rucksäcke, zusammengeklappte Campingstühle, kaputte Pavillons - es war an der Zeit, sich langsam aber sicher zu verabschieden. Die Cashless-Chips an den Festivalarmbändern wurden entladen und die zig-tausend mit Schlamm bedeckten Gummistiefel machten sich auf den Nachhauseweg aus St. Gallens «Little Hollywood».

 

OASG, wir sehen uns wieder!

 

Rahel Inauen / Sa, 08. Jul 2017