Wo bleiben die Eltern?

Filmkritik: Detachment
Bildquelle: 
www.filmcoopi.ch

2010 kam der Dokumentarfilm «Waiting for Superman» in die Kinos, der sich mit dem miserablen öffentlichen Bildungssystem in den Vereinigten Staaten auseinandersetzte. Detachment kann nun als die dazugehörige fiktionale Erzählung betrachtet werden. Henry Barthes (produzierte den Film gleich mit: Adrien Brody «The Pianist», «The Darjeeling Limited») ist Aushilfslehrer in New York. Er kommt, wenn er benötigt wird und geht, sobald der Lehrerposten erneut fest besetzt wurde. An einer New Yorker High School trifft Henry nicht nur auf seine bis dahin grösste Herausforderungen, drei Frauen mischen sich zudem in sein bisher einsames Leben und stellen ihn vor Entscheidungen, die sein und deren Leben für immer verändern.

 

Bild 1 & 2: Henry (Adrien Brody) und Erica (Sami Gayle) sind ein gutes Team.

 

Regisseur Tony Kaye («Lake of Fire») behandelt in seinen Filmen häufig soziale Fragestellungen. Am bekanntesten ist seine Regiearbeit für das Rassismusdrama «American History X». In „Detachment“ dreht sich nun alles um die verlorenen Kinder, die Zuhause keine Erziehung oder Unterstützung erhalten und daher leicht von Marketingslogans und Musik-Videos beeinflussbar sind. Jugendliche, die sich alles erlauben, Lehrer anspucken, mit Prügeln drohen und sich ihre Zukunft unwiderrufbar selber zerstören bevor sie überhaupt angefangen haben, richtig zu leben. Sie entziehen sich jeglicher schulischen Verpflichtung, ohne von den Eltern zur Rechenschaft gezogen zu werden. In einer beeindruckenden Szene fragen sich Lehrerin Perkins (Blythe Danner, «Meet the Fockers») und Schulpsychologe Seaboldt (James Caan, «Der Pate», «Elf») an einem Elternabend, wo die Erziehungsberechtigten bleiben. Niemand ist gekommen, leere Schulhallen, Sitzungsräume und Schulzimmer prägen das Bild. Die Lehrkörper sind im wahrsten Sinne allein gelassen.

 

Adrien Brody und Sami Gayle funktionieren wunderbar

 

Neben Caan und Danner geben sich Bryan Cranston («Argo», «Malcolm in the middle»), Marcia Gay Harden («Pollock», «Mystic River») und Lucy Liu («Elementary», «Charlies Angels») die Ehre und übernehmen kleine, aber in sehr guter Erinnerung bleibende Nebenrollen. Die Stars des Filmes sind aber ausser Frage Adrien Brody und Sami Gayle («Royal Pains», «Blue Bloods»). Gayle verkörpert die minderjährige obdachlose Prostituierte Erica, die sich eines Abends an Henry klammert und zu seinem Schützling wird, bis sich beide der Realität stellen müssen. Neben Gayle überzeugen Christina Hendricks («Mad Man») als einsame Lehrerin Sarah und Betty Kaye (Tochter des Regisseurs) als künstlerisch begabte Schülerin Meredith. Beide Frauen haben ebenfalls ein Auge auf Henry geworfen und sehen in ihm den Ritter in goldener Rüstung. Das Henry dieser nicht unbedingt ist, wird allmählich klar, nachdem er Stück für Stück von seiner Vergangenheit eingeholt wird.

 

Bild 1: Henry (Adrien Brody) betrachtet Merediths (Betty Kaye) Kunstwerk. Bild 2:  Elternabend ohne Eltern.

 

Wie gesagt, «Detachment» ist kein sanftes Filmvergnügen. Trotzdem vermag der Film eine gewisse Zuversicht auszustrahlen, die nichts an der Authentizität der Geschichte ändert. Brody bricht einem durch seine bestehende Darstellung im wahrsten Sinn das Herz. Unermüdlich, unerschrocken und völlig vorurteilslos stellt er sich den Menschen und ihren Problemen, ohne jemals am Guten zu zweifeln, ohne die Hoffnung gänzlich zu verlieren. Dabei bleibt sein Henry ein durch und durch in der Realität verwurzelter Charakter und schwindet trotz seiner «Ritterlichkeit» überraschenderweise nie ins Märchenhafte. Neben schauspielerischen Höchstleistungen wie dieser, ist es die formelle Erzählweise, die diesen Film zu etwas Besonderem macht. Hervorzuheben ist deshalb der gelungene Einsatz von Stilmitteln, wie Breitwinkelaufnahmen, animierten Zeichnungen und Parallelmontagen, die uns noch mehr in die Komplexität der Handlung hinreissen. Es bleibt zu hoffen, dass der Film in Europa das Publikum findet, das ihm zusteht.

 

 

  • Detachment (USA 2012)
  • Regie: Tony Kaye
  • Drehbuch: Carl Lund
  • Besetzung: Adrien Brody, Marcia Gay Harden, James Caan, Christina Hendricks, Lucy Liu, Blythe Danner, Bryan Cranston
  • Dauer: 97 Minuten
  • Ab 7. März im Kino

 

Tanja Lipak / Mi, 06. Mär 2013