Lazzaros märchenhafte Reise in die Gegenwart

Movie-Kritik: Lazzaro felice
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Geschrien, gerufen, geflüstert, gehaucht … Mal belustigt, mal verärgert, mal befehlend … Auf dem isoliert gelegenen Gutshof Inviolata hört man immer wieder einen Namen: Lazzaro. Der Name hallt von den kargen Bergen, wird vom Wind getragen und vermischt sich mit dem Rauschen der Tabakblätter auf den Feldern bis er endlich sein Ziel erreicht. Und der der junge Mann (Adriano Tardiolo), der auf diesen bedeutungsschweren Namen hört, ist immer sofort zur Stelle. Hilfsbereit, gutmütig und still – schon fast zu gut für diese Welt –, wird er von den anderen Gutsarbeitern oftmals belächelt und für jene Arbeiten am Hof eingespannt, die keiner machen will. Er ist Teil der Gemeinschaft, gehört aber irgendwie doch nicht dazu und es scheint zufrieden mit seiner Rolle als unbeteiligter Beobachter. Bis er eines Tages auf Tancredi (Luca Chikovani), den verwöhnten und ewig gelangweilten Sohn der tyrannischen Gutsherrin Marquesa Alfonsina de Luna (Nicoletta Braschi, «La vita è bella», «La tigre e la neve») trifft. Als dieser Lazzaro bittet, ihm bei der Inszenierung seiner eigenen Entführung zu helfen, entwickelt sich zwischen den beiden ungleichen Männern eine Freundschaft. Allerdings bleibt dieser Streich nicht ohne Folgen. Denn plötzlich tauchen Carabinieri auf, die dem illegalen Feudalsystem der Marquesa ein Ende setzen und die Gutsarbeiter in eine Freiheit entlassen, die sie so nie gewollt haben.

 

Unaufgeregt und dennoch bewegend, einfach und dennoch tiefgründig, magisch und dennoch realistisch; «Lazzaro Felice» - der dritte Spielfilm der italienischen Regisseurin Alice Rohrwacher («Corpo celeste» und «La Meraviglie») bewegt sich zwischen zwei gegensätzlichen Polen. Schon die Story ist zweigeteilt. Durch eine unerwartete Zäsur in der Hälfte des Films springt die Geschichte um Jahrzehnte in die Zukunft. Dabei zeichnet der Film ein pessimistisches Bild von der modernen Welt, in die die Gutsarbeiter unfreiwillig hineinkatapultiert worden sind und ihr Dasein am Rande der Gesellschaft fristen müssen. Schnell ist man geneigt, Vergleiche zu ziehen mit dem ersten Teil des Films, der mit wunderschönen, eindrücklichen Aufnahmen der kargen, weitläufigen Landschaft und den sorgfältig choreografierten Szenen mit den vielen Figuren eine Idylle erzeugt, die aufgrund der prekären Situation der Arbeiter schon fast absurd erscheint. Die Tatsache, dass sich die Situation für die ehemaligen Gutsarbeiter, trotz der erlangten Freiheit, verschlechtert hat, ist nur allzu deutlich sichtbar und hinterlässt beim Zuschauen einen bitteren Nachgeschmack. Dazu tragen auch die mehrheitlich in Grautönen gehaltenen Bilder und der typisch blecherne Lärm der Grossstadt bei, die den zweiten Teil dominieren.

 

Lazzaros Passivität lässt schier verzweifeln

 

Rohrwacher verbindet diese Gesellschaftskritik mit grundlegenden philosophischen Fragen und durch die Verwendung magischer und mythischer Elemente nimmt sie der Geschichte ihre Schwere. Das Ganze funktioniert über die Hauptfigur, die beide Filmhälften miteinander verbindet. Wie der Film trägt auch Lazzaro gegensätzliche Pole in sich. Er ist ein Teil der Gemeinschaft auf Inviolata und dennoch scheint er nicht wirklich dazuzugehören. Er arbeitet hart, ist involviert und dennoch bleibt er oft nur ein Zuschauer. Seine Hilfsbereitschaft und Vertrauensseligkeit werden sowohl von den anderen Arbeitern als auch von Tancredi ausgenutzt und seine Gutmütigkeit und ständige Freundlichkeit als Einfältigkeit belächelt. Lazzaro ist einfach zu gut für diese Welt, zu selbstlos; beinahe schon ein Heiliger in einer modernen Welt, die mittlerweile so zynisch geworden ist, dass die bedingungslose Aufopferung und Hilfsbereitschaft einer Person bei seinen Mitmenschen Misstrauen erzeugen. Das stimmt nachdenklich und wirft viele Fragen auf, bisweilen lässt Lazzaros Passivität einen beim Zuschauen aber auch schier verzweifeln.

 

«Lazzaro felice» erzählt die ewig wiederkehrende Geschichte von Unterdrückung und Ausbeutung in enger Verbindung mit der jüngeren italienischen Vergangenheit und den gesellschaftlichen Veränderungen, die mit ihr einhergegangen sind. Lazzaros – im wahrsten Sinne des Wortes – magische Reise durch die Zeit ermöglicht es, einen Bogen von der Vergangenheit in die Gegenwart zu schlagen und das Märchenhafte mit der Realität zu verbinden, um die Wahrnehmung der Geschichte um eine poetisch-philosophische Ebene zu erweitern.

 

«Lazzaro felice» verbindet Gesellschaftskritik mit der Zeitlosigkeit eines Märchens und regt so zum Nachdenken an. Auch wenn der Film stellenweise etwas langatmig ist und die Figuren seltsam distanziert erscheinen, erzeugt er durch seine stimmungsvollen Bilder eine eindringliche Poesie.

 

  • Lazzaro felice (IT/CH/FR/DE 2018)
  • Regie: Alice Rohrwacher
  • Darsteller: Alba Rohrwacher, Nicoletta Braschi, Adriano Tardiolo, Luca Chikovani
  • Laufzeit: 128 Min.
  • Kinostart: 4. Oktober 2018

 

Sule Durmazkeser / Do, 04. Okt 2018