Kleine Morde unter Freunden

Filmkritik: Killers of the Flower Moon
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© 2023 Paramount Pictures. All Rights Reserved.

Martin Scorsese gab Anfang des Jahres ein trauriges Interview. So verstehe Scorsese endlich, mit 80 Jahren, was der japanische Regisseur Kurosawa 1990 meinte, als er mit 83 Jahren seinen Ehrenoscar entgegennahm. Kurosawa verkündete an seiner Dankesrede, dass er das Potential der Filmkunstform endlich zu begreifen verstehe, es aber leider schon zu spät ist, um all sein Wissen in die Tat umzusetzen. Ähnlich fühle sich nun auch er, Martin Scorsese, mit 80 Jahren. Ja, ein hohes Alter hat Marty, seiner Arbeit ist dies nicht anzumerken, im Gegenteil, mit «Killers of the Flower Moon» ist ihm ein episches Meisterwerk gelungen. 

 

Marty bei der Arbeit. © 2023 Paramount Pictures. All Rights Reserved.

Marty bei der Arbeit. © 2023 Paramount Pictures. All Rights Reserved.

 

Der Historienfilm basiert auf dem gleichnamigen True-Crime-Sachbuch von David Grann. In den 1920ern wurden unzählige Osage Indianer Opfer von Mordverbrechen aus Gier und Neid, ausgeübt von der weissen Bevölkerung. Und hier beginnt der Film. Die Osage Bevölkerung, also ihre Einheimischen, gehören in den 1920er Jahren aufgrund ihrer Erdölquellen zu den vermögendsten Einwohnern der Vereinigten Staaten. Montagen zeigen uns eine längst vergessene Zeit: Amerikanische Ureinwohner in edler Bekleidung, mit extravagantem Schmuck und teuren Limousinen, herumchauffiert von der weissen Arbeiterschicht. 

 

Chef-Rancher William King Hale (Robert De Niro) lebt auf den ersten Blick ein ruhiges und friedliches Dasein in Osage. Der Geschäftsmann gibt sich als Freund und Verständiger der Ureinwohner aus und pflegt deren Sitte und Bräuche in der Öffentlichkeit. Als sein Neffe Ernest Burkhart (Leonardo DiCaprio) nach dem Kriegsdienst zu ihm zieht, wittert Hale ein lukratives Geschäft und verkuppelt Ernest mit der Osage Indianerin Mollie (Lily Gladstone). Obwohl die unverheiratete Mittdreissigerin an Diabetes erkrankt ist und dadurch leicht lethargische Züge aufweist, besitzt sie einen scharfsinnigen Geist und enttarnt Ernest als den geldhungrigen Mann, der er ist. Trotzdem oder gerade wegen ihrer draufgängerischen Schwäche gibt sie ihren Gefühlen schliesslich nach und heiratet ihn wenig später. Den Frischvermählten bleibt aber nicht viel Zeit, immer mehr mysteriöse Morddelikte werden an der Osagebevölkerung verübt, so dass auch ihre Sicherheit bald in Frage gestellt ist, denn Mollie wird aufgrund der wegsterbenden Familie zur vermögensten Erbin.

 

Mollie und Ernest beim Kennenlernen. © 2023 Paramount Pictures. All Rights Reserved.

Mollie und Ernest beim Kennenlernen. © 2023 Paramount Pictures. All Rights Reserved.

 

Wer die «Killers of the Flower Moon» sind, oder dass Hale als Strippenzieher an den Verbrechen hochgradig beteiligt ist, wird an keinem Moment im Film verschwiegen. Es ist schliesslich keine «Who’s the Murderer?» Story, sondern ein feines Historiendrama, spannender Thriller («Wer überlebt?») und vor allem brutale Gesellschaftskritik. Anlässlich der Premiere in Los Angeles wurde der Osage Sprachberater Christopher Cote zum Film befragt. Persönlich hätte er sich gewünscht, eine Geschichte aus der Osage Bevölkerung, genauer gesagt aus Mollies Sicht, erzählt zu bekommen. Aber da es sich gemäss ihm, nicht um einen Film für die Ureinwohner handelt, sondern eben für das Publikum der weissen Einwanderer, habe Marty hier richtig gehandelt. Den dieses Publikum muss sich hinterfragen und reflektieren, welche Gräueltaten begangen wurden und ob man aus der Geschichte gelernt habe. Und hier liegt die unglaubliche Stärke des Films. Martys Herz schlägt unverkennbar für die Osage Bevölkerung. Dies ist jede Sekunde und Szene spürbar. Insbesondere Mollie gegenüber wird tiefe Bewunderung ausgedrückt. Aber es ist Ernests Perspektive, Ernests innerer Konflikt im Mittelpunkt. Und dies, obwohl er in keinem Moment auch nur ansatzweise korrekt handelt, und dadurch keinerlei positiven Gefühle beim Publikum auslöst. Im Gegenteil. Der Film präsentiert wie menschenverachtend die angblich «zivilisierte» Bevölkerung handelt, während die «Wilden» sich auf die Gesetztesordnung  berufen und deren Vertreter.

 

Jede einzelne Darstellung ist so hingebungsvoll, dass die 206 Minuten Laufzeit fast unbemerkt vergehen. Zu angespannt ist die Situation, zu sehr möchte man Lily Gladstone wachrütteln und ins Ohr schreien, sie solle flüchten, ab durch die Nacht, ohne sich umzudrehen. Aber dies tut Lily resp. Mollie nicht. Sie bleibt. Sie nimmt die vergiftete Insulinmedizin. Und wir bangen und bangen bis zur letzten Minute dieses epochalen Meisterwerks, nehmen die unmenschlichen Gräueltaten eins nach dem anderen hin, hoffen auf Ernests Eingebung, hoffen dass der Mensch vielleicht doch nicht so bestialisch ist, wie uns die Geschichte, alt und aktuell, demonstriert. Denn bleibt uns am Ende nichts anderes übrig als die Hoffnung?

 

«Killers of the Flower Moon» gehört zum Besten, was Martin Scorsese je erschaffen hat. Ein Historienfilm, dessen Kernaussage nicht aktueller sein könnte. Wir brauchen Werke, wie dieses. Dem kollektiven Vergessen und Verdrängen kann nur Kunst wie diese einen Stein in den Weg legen. 

 
  • Killers of the Flower Moon (USA 2023)
  • Regie: Martin Scorsese 
  • Drehbuch: Eric Roth & Martin Scorsese 
  • Darsteller: Leonardo DiCaprio, Robert De Niro, Lily Gladstone, Jesse Plemons, Tantoo Cardinal, John Lithgow, Brendan Fraser, Cara Jade Myers, Janae Collins, Jillian Dion 
  • Laufzeit: 206 Minuten
  • Kinostart: 19. Oktober 2023

 

Tanja Lipak / Mi, 18. Okt 2023