Sie hat nach ihrem Gewissen gehandelt, nicht nach Konvention

Interview mit Marie Noëlle
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Bäckstage traf die «Marie Curie» Regisseurin Marie Noëlle anlässlich der Filmpremiere in Bern. Die lebensfrohe, gesprächige, interessante und äusserst humorvolle Französin schöpfte aus ihrem ganzen Wissen über Marie Curie und zeigte sich als wahrliche Expertin. Noëlle sprach über ihre Faszination über Marie Curie, darüber warum Kunst und Forschung zusammengehören, welche Mühe sie bei der Besetzung der Hauptrolle hatte und wie sie an die Geschichte herangegangen ist. 

 

Was mich an deinem Film erstaunt hat, war diese moderne Interpretation der Marie Curie. Ich kannte sie nur als geniale Wissenschaftlerin.

 

Dies war bei mir genauso. Ich kannte sie nur als faszinierende Forscherin, als erste Nobelpreisträgerin, als von Einstein gerühmte intelligenteste Frau der Welt. Ich war sehr erstaunt wie wenig wir von ihr als Frau wissen. Als ich von der Affäre und dem Skandal drumherum gelesen hatte, war ich interessiert daran dem nachzugehen. Ich habe mich gefragt wie sie das alles miterlebt hat und was in ihr vorging. Sie wurde länger als ein Jahr gehetzt. Nach ihrem zweiten Nobelpreis tauchte sie in London unter. Sie erlebte zwischen ihren zwei Nobelpreisen alles was man als Mensch erleben kann. Unglaubliche Freude, die höchste Anerkennung, Geburt des Kindes, die Trauer über den Tod des Mannes, die Pflicht weiter zu forschen, der Kampf nach Anerkennung und als es endlich wieder bergauf ging, diese schlimme Reaktion der Gesellschaft über ihre Affäre. Und obwohl sie frei war und Langevin der Ehebrecher, wurde sie beschimpft, nicht er. Ich fing an, ihre Tagebücher und Briefe zu lesen und der Mensch, den ich dabei entdeckte, hat mir sehr imponiert. Ich bin nie so konsequent in meinem Handeln wie sie es war und sie hatte einen sehr freien Geist. Sie hat nach ihrem Gewissen gehandelt, nicht nach Konventionen. Das muss man zunächst können, ich finde das sehr erstrebenswert.

  

Ihr Leben entspricht eher dem einer Künstlerin, nicht der klassischen frommen Forscherin

 

Ja, ich denke, dass wir alle ein Klischee über die Forschung im Kopf haben. Wir schubladisieren die Dinge sehr gerne und Physik hat dem ersten Augenschein nichts mit Magie zu tun. Und dieses Bild ist falsch. Mein Mann war Forscher, ich selbst habe Mathematik studiert, wir sind auch Träumer und die Welt braucht Träumer. Und Forscher wollen schlussendlich die Geheimnisse der Natur entlocken, dass heisst sie befassen sich tagtäglich mit dem Magischen, dem Unerklärbarem. Ich wollte der Wissenschaft einen sinnlichen Touch geben mit meinem Film. Und Pierre Curie zum Beispiel war ja trotz seiner 40 Jahre sehr kindlich. Er hat immer Radium mit sich getragen und wenn die Sonne unterging jedermann das Blau funkelnde Steinchen gezeigt. Und nach ein paar Monaten hatte er Verbrennungen an den Händen, doch statt zu denken «oh, das muss wohl gefährlich sein», dachte er «ah, das ist toll, damit kann man vielleicht Hautprobleme beseitigen oder kurieren». So entwickelte er daraus einen Applikator um Warzen zu entfernen. Und später kam er auf die Idee das Tumore damit bekämpfen kann. Er hatte diese gewisse Vorstellungskraft um auf derartig wilde Ideen zu kommen.

  

Eine schöne Anekdote, vielen Dank. Gibt es weitere solche Geschichten aus Marie Curies Leben?

 

Ja. mich faszinierte ihre Haltung. Wenn Marie ein Problem antraf, jammerte sie nicht darüber, sondern suchte nach unkonventionellen Lösungen. Ihre Tochter Daphne hatte ein grosses Talent für Physik, konnte das Fach aber nicht in der Schule besuchen, also gründet Marie eigenhändig eine eigene Schule. Und entwickelt dazu ein Erziehungsprogramm, welches die modernen Erziehungsprogramme der Gegenwart beinhaltet. Und zwar waren nicht nur die naturwissenschaftlichen Fächer von Bedeutung sondern auch Sport. Sie mussten ein ziemlich strammes Programm absolvieren. Literatur war auch dabei und Musik und Kunst. Schriftsteller haben Unterricht gegeben. Die Curies hatten natürlich alle wichtigen Kontakte. Ein Traum von einer Schule. Sie hatte eben diese Wissensbegierde für alle Fächer. Sie hatte eine ganzheitliche Sicht aufs Verstehen von Dingen. Sie war Vertreterin der humanistischen Werte.

 

Wow, du weisst sehr viel über Marie. Hat das beim Drehbuchschreibens eher geholfen oder nicht? Weil der Film beinhaltet schliesslich nur ein paar Jahre ihres Lebens.

 

Zum Glück handelt der Film nur über einen Lebensabschnitt und nicht ihr ganzes Leben, das wäre unmöglich in 100 Minuten packen zu müssen (lacht). Dazu bräuchte man 10 Filme. Und man würde wohl zeigen, wie sie im ersten Weltkrieg an die Front fährt. Oder als sie später nach Amerika geht, ohne Forschungsgeld und dann ein Gramm Radium geschenkt erhält. Aber ich musste mich beschränken, so wie jetzt beim Erzählen (lacht). In der gezeigten Periode ihres Lebens ist sie noch in der Entwicklung ihres Charakters und das finde ich sehr interessant. Sie ist noch weit weg von der reifen Frau. Zuerst haben wir uns aber beim Schreiben schon überlegt, ob wir zwei Lebensabschnitte zeigen sollten, um die Entwicklung, welche sie gemacht hat, stärker betonen zu können. Aber ich entschied mich dann dagegen, weil ich den Film so schlicht wie möglich halten wollte. Und nur ganz spezielle Aspekte zeigen, die ich nennenswert fand. Weil es gibt genügend Dokumentarfilme, wenn man präzise Details wissen möchte. Ich wollte aber einen Spielfilm drehen mit einem Spannungsbogen. Die Arbeit mit Andrea war sehr einfach, ich schrieb und sie hat es danach überarbeitet. Das komplizierte war, dass  ich in Französisch schreiben musste, aber sie kein Französisch spricht und wir dann immer zweigleisig fahren mussten (lacht). Ich hatte beim Schreiben gewisse Szenen schon sehr präzise im Kopf und die setze ich beim Dreh auch genauso um.

 

War es schwierig die richtige Marie zu finden?

 

(Lacht geradeaus heraus.) Ja, ja, es war sehr schwierig. Es war Learning bei Doing. Die erste Produktionsfirma wollte eine französische Darstellerin haben. Und okay, es gab auch viele, die es gerne gemacht hätten, aber irgendwie hatte ich bei keiner ein gutes Gefühl. Es ist ähnlich wie beim Verlieben, entweder es passiert oder es passiert nicht. Der Funke muss überspringen, sonst funktioniert es bei mir nicht. Also habe ich darüber nachgedacht, warum mich all die Darstellerinnen kalt lassen. Ich habe zwei Jahre mit der Suche nach der Marie verbracht. Es war schrecklich. Und da erkannte ich, was mein Problem war: ich wollte einen authentischen Film machen und ich suchte keine Inkarnation einer Französin als Marie Curie sehen. Und sie hatte immer einen polnischen Akzent. Und da ich selbst als Französin in Deutschland lebe, weiss ich wie sich das anfühlt. Sprich ich bin immer als Fremde identifizierbar. Und dies beeinflusst die Interaktion der Menschen. Weil neben der Sprache kommt auch die ganze Gestik, das ganze Verhalten, das Temperament. Danach wusste ich das ich in Polen suchen musste. Doch in Polen ist Curie diese ernste kühle Frau. Ein Staatsheiligtum. Bei meiner ersten Reise nach Polen konnte ich alle Bronzestatuen nicht mehr zählen, in jeder Stadt stand eine. Aber ich suchte eben kein Look-alike sondern ein Feel-alike und deshalb war es auch in Polen nicht sehr einfach. Ich habe alle Fotos von möglichen Darstellerinnen auf meinem Pult liegen gelassen und mein Blick ging immer wieder zu Katharina. Da wusste ich dann, dass sie es sein würde. Sie hatte etwas sehr bestimmtes in ihrem Blick und eine grosse Grazie und Zärtlichkeit. Und dann wollte es das Glück noch, dass sie als junges Mädchen als Au-Pair gearbeitet hat und Französisch sprach mit dem richtigen polnischen Akzent.

 

Der Film läuft im Kino.

Unsere Marie Curie Kritik findest du hier.

 

Tanja Lipak / Do, 09. Feb 2017