Hoffnungsvolle Schicksalsgemeinschaft

Moviekritik: La Mif
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©Aardvark Film Emporium

Alison liebt Caro. Caro muss mit einem Schicksalsschlag umgehen. Novinha sieht Audrey als ihre beste Freundin und geht für sie – und auch sonst - keinem Streit aus dem Weg. Tamra droht durch ihren 18. Geburtstag die Abschiebung. Und Lora, die den Laden als Heimleiterin organisiert, ist die gute Seele von La Mif, die Familie, wie die Mädchen und jungen Frauen ihre Gemeinschaft selbst bezeichnen. Also der ganz normale Alltag. Oder doch nicht?

 

Der Film «La Mif» begleitet geduldig und mit ruhigen Einstellungen den Alltag einer Gruppe junger Frauen und Mädchen im Heim. Sie wirken wir normale Teenager. Aber alle haben sie schlimme Erfahrungen gemacht, das verbindet sie, schweisst sie zusammen. Ob im Hallenbad oder beim gemeinsamen Essen. Und doch werden die traumatischen Ereignisse im Film bewusst wenig eingeordnet. Das sollen wir im Kinosaal mal schön selbst tun. Viel lieber lässt Regisseur Fred Baillif die Protagonistinnen erzählen oder sie auch mal minutenlang unkommentiert in die Leere blicken oder einfach stumm beieinandersitzen. Als Zuschauer ist man stets auf dem Beobachtungsposten. Diese stillen Momente sind ein schlauer Coup, weil man glaubt, in die Gedanken der Clique sehen zu können, und gleichzeitig bekommt man beim Betrachten genügend Zeit zum Reflektieren des Gesehenen. Die Mädchen im Fokus bekommen sehr viel Zeit. Man schaut ihnen beim Herumalbern zu, beim Kichern, beim Schimpfen über die Gartenarbeit; beim Menschsein eben.

 

Film als eine Art Collage

 

Eine klare Handlung hat «La Mif» nicht. Es ist eher ein Mosaik an Lebensgeschichten. Die persönlichen Geschichten der Freundinnen könnten allen anderen Menschen auch passiert sein. Sie dienen eher als Bindemittel, um in den Alltag im Heim zu blicken; ungeschönt und authentisch. Narrativ ist der Film eine Art Collage, die jeder der jungen Frauen ein Kapitel widmet. Die einzelnen Kapitel beziehen sich geschickt auf die Abschnitte der anderen Figuren und ergänzen offene Fragen.

 

Novinha schäumt vor Wut. (©Joseph Areddy)

 

Das Herz des Films ist zweifellos der beeindruckende Cast. Keine der jungen Darstellerinnen ist professionelle Schauspielerin und trotzdem nimmt man ihnen den Schmerz, aber auch die Freude sofort ab. Das liegt an der Arbeitsweise von Regisseur Fred Baillif. Er hat über zwei Jahre hinweg mit jungen Frauen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, gesprochen und so langsam im Team und mit Blick auf die realen Erfahrungen die Hintergrundgeschichten seiner Charaktere definiert. Diese Art des Arbeitens macht im Fall von «La Mif» völlig Sinn, haben doch Betroffene oft einen anderen emotionalen Zugang. Dazu gab es kein fixes Drehbuch und keine vorgeschriebenen Dialoge. Nur einige Pointen und der grobe Filmplot waren gesetzt. Das erlaubte den Frauen ihre eigene Sprache einzubringen und förderte das Improvisieren. Darum sind die Hauptfiguren so glaubwürdig. Man vergisst rasch, dass man Schauspielerinnen zuschaut.

 

Dazu kommt die Leidenschaft beim Spiel. Eine Entdeckung ist Kassia Da Costa, die Novinha ein Profil verleiht. Sie ist eine wahre Grimassenzauberin und so authentisch, dass man mir ihr echt keinen Ärger will. Wenn sie regelrecht explodiert, geht man besser auf Abstand. Amélie Tons, die Alison spielt, blüht im subtilen Spiel mit Amandine Golay, die Caro spielt, richtig auf und Anaïs Uldry, die Audrey spielt, verkörpert die junge Frau, die mit gefühllosem Sex verzweifelt Verdrängung sucht, ruhig und fast schon gespenstisch still.

 

Authentisches Konzept mit Handkameras und Erfahrung

 

Das Heim existiert auch in der Realität und Claudia Grob, die Lora spielt, hat persönliche Erfahrungen als Heimleiterin bzw. Sozialarbeitern. Sie hat mit Regisseur Baillif ein Konzept erarbeitet, das realistisch und durchwegs überzeugend ist. So überzeugend, dass man ab so mancher nicht ganz fairen Aktion der Mädchen-Clique nur den Kopf schütteln muss. Aber genau diese Reaktion macht das Geschehen so glaubwürdig. Schliesslich sind diese Frauen das Einzige, was sie auf der Welt haben, La Mif eben. Gefilmt wurde mit Handkameras und im Heim, das die jungen Frauen kennen und das ihnen vertraut ist. So wird die Authentizität unterstützt und es gelingt «La Mif» innert kurzer Zeit, dass sich die Grenzen zwischen Fiktion und Realität in Luft auflösen.

 

«La Mif» ist ein aussergewöhnlicher und wichtiger Film. Kein klassischer Spielfilm, aber auch keine Doku, sondern ein offenes Ohr für Menschen mit schwierigen Schicksalen. Allein für diesen Anspruch hat er eine Plattform verdient.

 

  • La Mif (Schweiz 2021)
  • Regie: Fred Baillif 
  • Drehbuch: Fred Baillif und Stéphane Mitchell
  • Besetzung: Claudia Grob, Anaïs Uldry, Kassia Da costa, Joyce Esther Ndayisenga, Charlie Areddy, Amélie Tonsi, Amandine Golay, Sara Tulu
  • Laufzeit: 112 Minuten
  • Kinostart: 17. März 2022

 

Bäckstage Redaktion / Mi, 16. Mär 2022